"Die kognitive Beanspruchung ist höher"

Bradley Horowitz, bei Google für die Entwicklung sozialer Netzdienste verantworltich, erläutert, wie Google+ den Standard für soziale Netzwerke anheben soll und auch den Konzern selbst verändert.

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Von
  • Tom Simonite

Mathematik hat Google zum Marktführer im Suchmaschinengeschäft gemacht – und sorgt für erkleckliche Einnahmeströme durch Online-Werbung. Um mit Facebook und Twitter mitzuhalten, muss der Datenkonzern sich jedoch auf das schwierige Terrain zwischenmenschlicher Beziehungen begeben. Verantwortlich hierfür ist Bradley Horowitz, der die Entwicklung von sozialen Netzdiensten, darunter Google+, leitet.

Horowitz sieht in Google+ ein soziales Gerüst, das in Zukunft sämtliche Google-Produkte tragen soll, indem es hilft, Menschen, ihre Vorlieben und ihre Verbindungen zu verstehen. Googles erster größerer Versuch eines internationalen sozialen Netzwerks, der Twitter-Klon Buzz, war noch ein Fehlschlag. Doch man lerne aus solchen Fehlern, sagt Horowitz. Technology Review sprach mit ihm darüber, wie Google+ den Standard für soziale Netzwerke anheben soll und auch das Unternehmen Google verändert.

Technology Review: Herr Horowitz, was läuft bei den bestehenden sozialen Netzwerken falsch?

Bradley Horowitz:
Wir hören oft, dass die Leute sich „over-friended“ fühlen. Sie haben Unmengen an Online-Freunden, weil sie eine soziale Verpflichtung empfinden, jede Anfrage zu bestätigen. Am Ende akzeptieren sie von echten Freunden über Konferenzbekanntschaften bis zu alten Kindergartenfreunden alle.

Das behindert sowohl die Qualität als auch die Quantität von Kommunikation. Sie versuchen eine sehr heterogene Gruppe anzusprechen, die sie nie als Ganzes erreichen können. Auf diese Weise werden Gespräche auf den kleinsten gemeinsamen Nenner heruntergeschraubt, und man gibt Sätze von sich wie „Ich stecke gerade im Stau“ oder „Ich bin jetzt in einem Olive Garden“. [Olive Garden ist eine amerikanische Restaurantkette] Das Ganze wird zum Geschwafel.

TR: Was ist ihr Rezept dagegen?

Horowitz:
Nutzer sind facettenreicher. Ein Mensch hat viele Identitäten, nicht nur eine einzige. Entsprechend haben wir unser Produkt angelegt: Sie können eine Familien-Identität pflegen, eine Kneipen-Identität, eines Arbeits-Identität. Dazu kommen Identitäten aus Hobbys, etwa dem Radfahren. Wir versuchen sicherzustellen, dass soziale Aktivitäten im Netz nicht zwangsläufig in Banalitäten oder Zeitverschwendung enden.

TR: Dieser Ansatz zeigt sich im Circles-Konzept, dem zentralen Baustein von Google+. Nutzer können ihre Kontakte solchen „Kreisen“ zuordnen. Bedeutet das nicht Arbeit für die Nutzer?

Horowitz:
Die kognitive Beanspruchung ist höher. Denn sie müssen sich jedesmal überlegen, mit wem sie was teilen wollen. Wir hören aber immer wieder, dass Nutzer dazu bereit sind, weil sie dadurch ihre Privatsphäre besser kontrollieren können. Die sollte jederzeit im Blick bleiben und nicht in irgendwelchen Einstellungen versteckt sein. Aus Buzz haben wir mitgenommen, dass den Nutzern ihre Privatsphäre sehr wichtig ist – im Gegensatz zur immer wieder geäußerten Behauptung, die Privatsphäre sei tot und alles nun eine öffentliche Angelegenheit.

TR: Versuchen Sie, das reale Leben genauer abzubilden als Dienste wie Facebook?

Horowitz:
In manchen Fällen versuchen wir wirklich, an den Gepflogenheiten des realen Lebens dran zu bleiben, um die Erwartungen der Nutzer zu erfüllen. Biologisch sind wir so angelegt, dass wir auf physische Begrenzungen achten. Wir wissen zum Beispiel, dass Schallwellen nicht durch Mauern dringen, dass also nicht jeder unsere Gespräche mithören kann.

TR: Dennoch macht Google+ Vieles so wie Facebook und Twitter. Wenn Sie mit denen konkurrieren wollen, müssen Sie ganz neue Sachen bieten, die kein anderer macht, oder nicht?

Horowitz:
Wir sind da erst am Anfang. Ein Element, das den Schwerpunkt unseres Produkts verschiebt, ist die Websuche. Wenn Sie „Kite Surfing“ in Google+ eingeben, bekommen sie einen Livestream mit Inhalten, die nicht nur von ihren Bekannten stammen, sondern auch von Experten auf diesem Gebiet, die alle als relevant eingestuft wurden.

TR: Wie wirkt sich das auf andere Google-Dienste aus, wenn sie individuelle Informationen berücksichtigen?

Horowitz:
Wir haben kürzlich „+snippets“ zum Kartendienst Maps hinzugefügt. Damit können Sie mit einem Klick Freunde sehen lassen, was Sie gerade anschauen. Das ist nur die Spitze des Eisbergs von dem, was möglich ist. Wenn Sie nach Fahrtrouten schauen, könnten Mitfahrgelegenheiten eingeblendet werden. Oder Sie bekommen eine Nachricht, dass ein Bekannter denselben Zug nimmt. In New York könnte ich mir Bewertungen von Leuten anzeigen lassen, von denen ich weiß, dass sie dort leben oder schon mal gewesen sind.

TR: Das klingt, als ob Sie nicht nur ein besseres soziales Netzwerk aufbauen wollen, sondern auch das Unternehmen neu ausrichten.

Horowitz:
Das tun wir, glaube ich. Wir müssen es auch tun, weil wir eine neue Phase im Web erreicht haben. Die Erste war das Web der Links, das Google mit seiner Suche und dem PageRank-Algorithmus verändert hat. Dann kam die Phase der Webanwendungen, die Google mit Gmail oder Google Maps mitgeprägt hat. Die nächste Phase ist das Web der Menschen. Das bedeutet, es sind die Menschen, die Vitalität und Inhalte im Netz vorantreiben. Die Chance für Google ist, anzufangen, die Menschen zu erkennen. Wenn wir wissen, wer Sie sind, welche Interessen Sie haben, und wer Sie kennt – wenn Sie uns das wissen lassen, können wir all ihre Online-Aktivitäten besser machen. Ob bei der Websuche, im Android-System, im Chrome-Browser, auf Youtube, in Gmail und all dem anderen, was wir tun.

TR: Wenn Sie Nutzer von Facebook herüberziehen wollen, müssen Sie sich aber sputen. Facebook hat bereits Ideen aus Google+ übernommen.

Horowitz:
Wir müssen zunächst einmal keine Nutzer aus Facebook herüberziehen. Google mit all seinen Diensten hat genug Nutzer, denen wir einfach die neue Art und Weise vorstellen müssen, wie man mit Google umgehen kann. (nbo)