Wie Europa beinahe das Internet erfand

Die Wiege des Internets steht in den USA. Doch das weltweite Netz hätte auch diesseits des Atlantiks seinen Ausgang nehmen können.

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  • Mariann Unterluggauer
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Die Wiege des Internets steht in den USA. Doch das World Wide Web hätte auch diesseits des Atlantiks seinen Ausgang nehmen können.

Nicht nur Studenten und das "Establishment" standen einander in den späten 1960er-Jahren unversöhnlich gegenüber – auch die Vertreter der Computer- und der Telefonbranche. Ihr Konflikt kulminierte Ende 1967 in Genf. Dort hatten sich Fachleute der staatlichen Post-, Telefon- und Telegrafengesellschaften zu einem turnusmäßigen Treffen ihres Standardisierungskomitees CCITT versammelt – und mussten sich von IBM-Mitarbeiter Frank Warden anhören, dass sie zwar viel von Kommunikation, aber nichts von Computern verstünden und dass sie den Aufbau eines Datennetzes doch lieber denen überlassen sollten, die sich damit auskennen. Zum Beispiel IBM.

Ausgerechnet IBM. Der amerikanische Computerriese hatte damals einen Anteil von mehr als 70 Prozent am europäischen Computermarkt, mit dem Flugreservierungssystem Sabre hatte er außerdem bereits Erfahrungen mit der Vernetzung von Rechnern gesammelt. Die Presse spottete über die Europäer als die "sieben Zwerge", die sich technologisch nur noch am Rockzipfel des fortschrittlichen "Schneewittchens" IBM festhalten könnten.

Und nun bohrte Warden auch noch in dieser Wunde herum. Eine solche Ansprache waren die Postbediensteten, die sich selber gern als die einzig wahren Fachleute für jede Form des Datenaustauschs betrachteten, nicht gewohnt. Die britische Delegation wusste allerdings zu kontern: Sie hatte in weiser Voraussicht den Mathematiker Donald Davies mitgebracht.

Davies war seinerzeit ein international bekannter Star-Wissenschaftler und arbeitete bereits seit Längerem am National Physical Laboratory bei London am Aufbau eines Computernetzes – mithin ein satisfaktionsfähiger Gegner für den IBM-Mann Warden. Die Briten setzten durch, dass Davies kurzfristig auf die Rednerliste gesetzt wurde.

Was Davies dem Gremium erzählte, war technisch visionär: Er stellte seine Idee vor, große Dateien in kleine Datenpakete zu zerstückeln, die selbstständig und unabhängig von-einander durch ein Netzwerk reisen und erst beim Empfänger wieder zusammengesetzt werden ("packet switching", zu Deutsch "Paketvermittlung"). Auf diese Weise ließen sich die vorhandenen Datenleitungen deutlich besser ausnutzen, da eine einzige Leitung die Pakete von vielen verschiedenen Sendern übermitteln kann.

Mit seinem Vortrag erreichte Davies, dass die CCITT eine Arbeitsgruppe für neue Datennetze ins Leben rief. Diese erwies sich jedoch als reine Alibiveranstaltung, um unbequeme Wissenschaftler ruhigzustellen. Das erste Arbeitstreffen kam erst 1970 zustande, fast drei Jahre nach dem denkwürdigen Auftritt von Davies in Genf. Keiner der teilnehmenden Postingenieure hatte ein wirkliches Interesse daran, seine Ansichten über die Datenkommunikation zu ändern und "packet switching" eine Chance zu geben. Ihnen war die Vorstellung von frei vagabundierenden Datenpaketen ein Gräuel. Sie waren mit "leitungsvermittelten" Netzen aufgewachsen, in denen es feste Verbindungen zwischen Sendern und Empfängern zu geben hatte. Und die Zukunft, darin waren sich damalige Experten einig, gehöre ohnehin dem Farbfernseh-Telefon. Hätten sich die europäischen Fernmelde-Fachleute rechtzeitig die Ideen von Donald Davies zu Eigen gemacht – die Entwicklung des Internets wäre womöglich anders verlaufen.

Über einige Umwege kam das europäische Datennetz dann aber doch wieder auf die Tagesordnung. Eine Handvoll Beamte der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sorgten sich Ende der sechziger Jahre, Europa könne technisch von den USA abhängig werden. Also forderten sie die Mitgliedsländer auf, Vorschläge für förderungswürdige Forschungsaufgaben einzureichen. Knapp 50 Anträge gingen zwischen 1967 und 1968 ein – darunter auch der für den Aufbau eines experimentellen pan-europäischen Informatiknetzwerks. Wer diesen Antrag eingereicht hatte, darüber geben die Quellen heute keine Auskunft mehr. Die Bewertung der Anträge oblag der Expertengruppe "Politique de la Recherche Scientifique et Technique", kurz PREST-Group.

In den folgenden beiden Jahren war die PREST-Group vor allem damit beschäftigt, die Begehrlichkeiten der Länder bei der Vergabe von Fördermitteln unter einen Hut zu bekommen.

Es war die Zeit der Postmonopole und der nationalstaatlichen Technologieförderung. Die Regierungen und ihre Industrien mochten zwar erkannt haben, dass sie nur gemeinsam gegen die technologische Vormachtstellung der USA etwas ausrichten konnten, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie deswegen ihre eigenen Interessen hintanstellten.

Als die Gruppe dann 1969 endlich ihre Empfehlung abgab, welche Vorhaben förderungswürdig seien, lauerte schon die nächste bürokratische Hürde: Länderübergreifende Forschungsförderung war damals noch Neuland in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die Beamten in Brüssel mussten also erst ein Konstrukt schaffen, damit sie einen solchen Arbeitsauftrag überhaupt erteilen konnten. Im Herbst 1969 entstand – für Brüsseler Verhältnisse sogar recht schnell – ein Programm namens COST ("Cooperation Europeenne dans la Domaine de la Recherche Scientifique et Technique"), das bisher alle Veränderungen innerhalb der Forschungspolitik der EU überlebt hat und heute das älteste Förderinstrument für wissenschaftliche und technische Forschung in der Union ist.

Unter der Bezeichnung "Cost Project 11" tauchte das "European Informatics Network" (EIN) dann als Forschungsprojekt auf. Dessen technischer Leiter wurde der Brite Derek Barber, ein früherer Mitarbeiter von Donald Davies. Er sollte nun mit einem vergleichsweise bescheidenen Budget von auf heutige Kaufkraft umgerechnet 50 Millionen Euro das erste europäische Computernetzwerk aufbauen, verbunden über die Leitungen der nationalen Post-, Telefon- und Telegrafengesellschaften.

Die ersten fünf Knotenpunkte waren das Centre Rete Europea di Informatica (CREI) in Mailand, die ETH Zürich, das Institut National de Recherche en Informatique et en Automatique (INRIA) in der Nähe von Versailles, das European Communities Joint Research Centre im norditalienischen Ispra und das National Physical Laboratory nahe London.

Das Netz war von Anfang an auf Zuwachs angelegt: Wenn sich weitere Institute an den Kosten beteiligten, sollten auch sie das "Internetworking" – also den Zusammenschluss verschiedener Computersysteme – erforschen können. Neun Parteien unterzeichneten 1973 den Vertrag zum Aufbau des Netzwerks: Frankreich, Großbritannien, Italien, Jugoslawien, Norwegen, Portugal, Schweden, die Schweiz sowie die Europäische Atombehörde EURATOM. Besonders bemerkenswert daran: Portugal war zu diesem Zeitpunkt noch eine Diktatur und Jugoslawien Mitglied des Ostblocks. Bei jedem Vertragsunterzeichner wurde ein Einwahlknoten installiert.

Als Derek Barber und sein Team mit der Arbeit begannen, stand wieder europäisches Proporzdenken im Mittelpunkt – zum Beispiel bei der Frage, welche Unternehmen mit der Umsetzung betraut werden sollen. "Die Briten agierten damals sehr weise", erinnert sich der Leiter der französischen Projektgruppe Louis Pouzin. "Sie schlugen vor, dass ihr Unternehmen Logica die Software schreiben und die Italiener die Computer dafür liefern sollten. Damit hätten auch die Italiener etwas davon."