Innere Sicherheit: Auf der Rutschbahn von Ausnahmegesetzen

Kritik an den Sicherheitsmaßnahmen des Bundes äußerten Teilnehmer einer Tagung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.

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Von
  • Richard Sietmann

Hart mit dem Staatsverständnis und der Sicherheitspolitik seiner Amtsnachfolger Schily und Schäuble ging am heutigen Donnerstag der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum auf einer Tagung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin ins Gericht. Er warf der Regierung vor, die Ängste der Bürger vor Terrorismus und Kriminalität zu schüren und daraus Kapital zu schlagen. "Wir sind auf einer Rutschbahn, in der ständig auf eine Ausnahmesituation mit Ausnahmegesetzen reagiert wird", erklärte der streitbare Liberale, der von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister in der sozialliberalen Koalition war und derzeit eine Verfassungsbeschwerde gegen die durch das nordrhein-westfälische Verfassungsschutzgesetz legalisierte heimliche Online-Durchsuchung privater PCs führt.

"Zur Logik des Sicherheitsstaates gehört die Maßlosigkeit", analysierte Baum die Lage, und "da man die Täter nicht mehr kennt, geht man zur Prävention über". Die Tornado-Aufklärungsflüge der Bundesluftwaffe über der G8-Gipfeldemonstranten bezeichnete er in diesem Zusammenhang als "Vorsorgehysterie". Mit dem Argument, Straftaten, die gar nicht erst begangen werden, brauche man auch nicht zu bestrafen, würden immer mehr Überwachungstatbestände und vorsorgliche Eingriffsbefugnisse geschaffen. "Der biometrische Code im Pass", prophezeite er bitter, "wird in Kürze mit Videokameras kombiniert". Das einzige Bollwerk sei noch das Bundesverfassungsgericht, das immer häufiger die vom Gesetzgeber verfügten Grundrechtseinschränkungen wieder korrigieren oder kassieren müsse, wie etwa beim niedersächsischen Polizeigesetz, dem Europäischen Haftbefehl, dem Luftsicherheitsgesetz, dem Großen Lauschangriff und dem Zollfahndungsgesetz geschehen.

In seinem Grundsatzreferat zum Tagungsthema "Datenschutz heute – Im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit" unterstrich Spiros Simitis, emeritierter Rechtswissenschaftler der Universität Frankfurt, von 1975 bis 1991 Hessischer Landesbeauftragter für den Datenschutz und unter der rot-grünen Bundesregierung Vorsitzender des Nationalen Ethikrates zur Biopolitik, die ständige Herausforderung des Datenschutzes durch die sich wandelnde Technik. Er forderte vom Gesetzgeber Normenklarheit und präzise gesetzliche Zweckbindungen.

"Zentrale Datenbanken sind ein Monument der Vergangenheit", meinte Simitis; heute ermögliche die Vernetzung "nicht nur die multiple Verwendung der Daten, sondern eine unendlich variable Verarbeitung". Dies ginge mit breit angelegten Veränderungen bei der Erhebung von Daten einher, von der präventiven Sammelwut des Staates bis zur kommerziellen Erfassung möglichst umfangreicher Konsumentendaten. Die individuellen Kundendaten stellen nicht nur wirtschaftlich ein "Informationskapital" dar, sondern seien wiederum für Sicherheitsbehörden von Interesse. "Es gibt nichts, was nicht schon gesammelt wäre, und es gibt keine Verarbeitungsgrenzen", meinte Simitis. Als Reaktionsmöglichkeit sieht der Rechtswissenschaftler nur den "bewussten, gesetzlich abgesicherten Informationsverzicht". Man müsse Grenzen setzen, die nicht überwindbar sind.

Die für das Verfassungsrecht zuständige Vertreterin des Bundesinnenministeriums, Cornelia Rogall-Grothe, fand diese Diskussion "einseitig und sehr datenschutzgeprägt". Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit sei "nicht so dramatisch", wie es die Referenten dargestellt hätten. "Ich habe eher den Eindruck, dass der Bürger seine Freiheit nicht gefährdet sieht". Man solle "die Diskussion nicht so führen, als würde jeder Bürger mit Online-Durchsuchungen überzogen", klagte sie; "es geht um Ausnahmefälle". Nachdem der Bundesgerichtshof geheime Online-Durchsuchungen untersagt hatte, müssten dafür die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden. "Wir können uns eine Grundgesetzänderung durchaus vorstellen".

Das Grundgesetz habe die technische Entwicklung nicht vorwegnehmen können, insofern sei es "veraltet", meinte Simitis auf dem Podium. Gerade deshalb komme es darauf an, wieder Normenklarheit herzustellen. So sollte der Schutz des Briefgeheimnisses einmal dazu dienen, die Kommunikation der Bürger vor staatlicher Überwachung zu schützen; heute gelte es, diese Norm auch auf E-Mails als Kommunikationsform zu übertragen. "Dort müsste man mit Änderungen des Grundgesetzes ansetzen", hielt er der BMI-Vertreterin entgegen.

Mit den rechtlichen Folgewirkungen des Ubiquitous Computing setzte sich Alexander Roßnagel, Professor am Institut für Wirtschaftsrecht der Universität Kassel, auseinander. Das Verschwinden des Computers in Hintergrundsystemen würde nicht nur einzelne neue Missbrauchsmöglichkeiten mit sich bringen, sondern "zentrale Grundlagen des Datenschutzes infrage stellen", erklärte er. Überall dort, wo man es beispielsweise mit spontaner Selbstorganisation von Technik oder gemischten privaten und geschäftlichen Einsatzbereichen zu tun habe, seien die normativen Schutzkonzepte überfordert. So stehe der vom Bundesdatenschutzgesetz geforderten Zweckbindung der Datenerhebung gerade die spontane, situationsabhängige Unterstützung des Ubiquitous Computing entgegen. In gleicher Weise steht die verlangte Datensparsamkeit mit der Entwicklung neuer Dienste im Konflikt, die sich auf vorhandene Datenbanken stützen, und die Forderung nach Transparenz sei letztlich illusorisch. "Der Sinn des Ubiquitous Computing ist ja, dass die Daten unbemerkt erhoben und verarbeitet werden."

Doch gerade deshalb werde die informationelle Selbstbestimmung nicht überflüssig, sondern immer wichtiger. In seinem auf der Veranstaltung vorgestellten Gutachten "Datenschutz in einem informatisierten Alltag" plädiert Roßnagel deshalb unter anderem für eine "Technisierung des Datenschutzes" mit der technisch gestützten Durchsetzung von Datenschutzrechten, zum Beispiel durch Software-Agenten. (Richard Sietmann) / (vbr)