Die Woche: Open-Source-Vorhersage für 2012

Wird Mint zum Superstar unter den Linux-Distributionen? Wie geht es mit LibreOffice und OpenOffice weiter? Hat WebOS noch eine Chance? Wir orakeln, wo es im neuen Jahr sonnig, stürmisch und wolkig werden könnte.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Thorsten Leemhuis
Inhaltsverzeichnis

Trotz aller Klimaforschung liegen Wettervorhersagen immer mal wieder gehörig daneben – hilfreich sind sie aber letztlich doch. Das ist auch das Ziel der folgenden Überlegungen und Prognosen, wie sich die Linux- und die Open-Source-Welt im neuen Jahr entwickeln könnte.

Der Shooting Star des letzten Jahres, Linux Mint, wird auch Ende 2012 bei Distrowatch noch ganz oben stehen. Mit Cinnamon haben sich die Mint-Macher aber viel vorgenommen. Das bindet Ressourcen, die das im Vergleich mit Debian, Fedora, OpenSuse oder Ubuntu kleine Mint-Projekt ohnehin nicht im Überfluss hat. Parallel zieht die Distribution Anwender – und damit Tester – bei Ubuntu ab und schwächt so ein klein wenig das eigene Hauptfundament. Mint wird daher nicht alle Erwartungen erfüllen, die sich in der Welt gerade aufbauen. Erste Anwender werden sicher weiterziehen; andere dürften zu ihren alten Distributionen zurückkehren, wenn sich der Ärger über Gnome 3 oder Unity gelegt hat.

Sicher ist, dass Ubuntu Ende April die nächste Version mit Langzeitpflege (LTS für Long Term Support) bringt – das ist schon fast "Business as usual". Die Frage ist: Wie lange geht es noch so weiter? Denn die Distribution wird auch 2012 mit einer großen, wenn auch durch Mint angeschlagener Fangruppe durch die Welt schlingern, ohne dass sie Canonical, das immer wieder nach neuen Einnahmequellen sucht, größere Mengen Geld einbringt.

OpenSuse und Suse mausern sich 2012, denn nach der vor einigen Monaten gewonnenen Eigenständigkeit merkt man neuen Schwung. Red Hat bleibt derweil der Silberrücken der Linux-Branche, wird im aktuellen Geschäftsjahr mit Sicherheit mehr als eine Milliarde US-Dollar umsetzen und auch danach weiter wachsen. Der Distributor wird sich aber mehr und mehr gegen Oracle wehren müssen, weil es dem Unternehmen doch hier und da gelingen dürfte, zusammen mit der eigenen Datenbank auch den eigenen RHEL-Klon an den Mann zu bringen – oder die Anwender womöglich zu Solaris zu bekehren.

Der Sturm um Gnome 3 wird sich legen, denn durch die vielen Erweiterungen für die Gnome-Shell und die Verbesserungen an Gnome 3.2 und 3.4 kehren viele Nutzer zu Gnome zurück, die mit der dritten Gnome-Generation unzufrieden waren; darunter wahrscheinlich auch einige, die sich sehr öffentlichkeitswirksam abgewandt haben. Beim KDE-Projekt werden Qt5 sowie die Auf- und Umräumarbeiten für die KDE Frameworks 5 einige Entwicklerressourcen binden; daher dürften die KDE Plasma Workspaces 4.9 Mitte des Jahres nicht ganz so viele Änderungen bringen wie es bei neuen Versionen zuletzt der Fall war.

Unity wird sich weiter nur langsam weiterentwickeln – die Community um den Desktop ist klein, wozu sowohl die enge Verknüpfung mit Canonical als auch die Beschränkung auf Ubuntu beiträgt. Die Mint-Macher machen es mit Cinnamon besser, denn das gibt es schon jetzt auch für andere Distributionen; Cinnamon wird daher auch in die Depots von Fedora und OpenSuse eingehen und Nutzer und Entwickler anziehen. Letztlich werden also am Ende des Jahres um die fünf Desktops (Cinnamon, Gnome, KDE, Unity und XFCE) um die Gunst der Anwender buhlen.

Gimp-Anwender können sich langsam auf die Version 2.8 freuen. Google kann durch seine Marktmacht den Anteil der Chrome-Nutzer weiter steigern; das geht zu Lasten von Firefox, der in der Linux-Szene aber weiter dominiert, weil viele Distributionen ihn standardmäßig installieren.

Das neuerdings unter dem Apache-Dach angesiedelte OpenOffice wird den Fuß in der Linux-Welt nicht auf den Boden bekommen, dazu hat LibreOffice schon zu viel Schwung und wichtige Unterstützer. Auch für die Windows-Version von OpenOffice wird es schwerer. Zwar profitiert OpenOffice hier derzeit noch von dem etablierten Namen; letztlich wird sich aber herumsprechen, dass Raider jetzt nicht nur Twix heißt, sondern auch ein paar kleinere Vorteile bietet.

Damit aus WebOS noch was wird, müsste zügig ein großes Unternehmen Geld in die Plattform pumpen und WebOS-Geräte auf den Markt bringen, denn sonst ziehen Android und iOS und vor allem die sie umgebenden Ökosysteme noch viel weiter davon. Intel und Samsung könnten das zusammen vielleicht schaffen, doch die setzen auf den Meego-Nachfolger Tizen, der auch drei Monate nach seiner Ankündigung noch ziemlich vage wirkt – es wäre schon sehr überraschend, wenn Tizen in diesem Jahr mehr als homöopathische Marktanteile im Mobilbereich erzielt.

Die Patentstreitigkeiten zwischen den Herstellern von Tablets und Smartphones werden im nächsten Jahr noch heftiger kochen. Das wird nicht ohne Folgen auf die Open-Source-Welt bleiben und zeigen, wie gut viele Linux-Distributoren daran getan haben, Software, die bekanntermaßen Patente verletzt, nicht in den Standard-Lieferumfang aufzunehmen.

Gut möglich, dass 2012 als das Jahr in die Geschichte eingeht, in dem sich mit Windows ausgelieferte PCs durch Secure Boot aktiv gegen die Installation von Linux sträuben. Kurioserweise beginnt diese Entwicklung zu einer Zeit, in der einiger Hersteller von Tablets und Smartphone die Mauern einreißen, mit denen sie jahrelang eine Installation anderer Betriebssysteme zu verhindern versucht hatten.

Der am Jahresende aktuelle Kernel dürfte die Versionsnummer 3.7 tragen. Das Btrfs-Dateisystem wird zum Highlight des Jahres im Kernel-Umfeld, denn es dürfte endlich seinen experimentellen Status ablegen und bei den ersten Distributionen als Standarddateisystem eingesetzt werden. Es wird aber mehr Datenverluste, Performance-Probleme und andere Anlaufschwierigkeiten geben als in der Anfangszeit von Ext3 oder Ext4; bei Red Hat Enterprise Linux 6 wird Btrfs daher frühestens 2013 zu den offiziell unterstützten Features gehören.

Der Anteil der Linux-Anwender, die ihre PC-Grafikhardware mit Open-Source-Treibern betreiben, steigt; proprietäre Treiber wird man Ende des Jahres nur noch brauchen, wenn man die Performance für 3D-Spiele benötigt oder einen der neuesten Nvidia-Grafikchips einsetzt. Als bevorzugte Virtualisierungsumgebung für Server-Distributionen etabliert sich KVM, da der Ansatz besser in die Linux-Welt passt als Xen. Mit spezialisierten Produkten zur Virtualisierung in größeren IT-Umgebungen wird Red Hat in diesem Jahr etwas an der Vormachtstellung von VMware knabbern – mehr aber auch nicht, denn es gibt noch einiges aufzuholen, was Red Hat zusammen mit anderen Linux-Größen vorantreiben wird.

Das Schlagwort "Cloud Computing" ist bald ausgelutscht und wird daher weniger oft zu hören sein. Nicht so die vielen verschiedenen und häufig auf freier Software basierenden Techniken hinter dem Buzzword, denn die werden dieses Jahr wichtiger und schleichen sich nach und nach in die IT-Abteilungen von Unternehmens ein. Was auf Linux-Heimservern läuft, hat daher immer weniger mit dem zu tun, was in mittleren und großen IT-Umgebungen im Einsatz ist.

Die Wetteraussichten für die Open-Source-Welt sind aber nicht bewölkt, sondern eher gut. Klar, den Desktop wird Linux auch 2012 nicht erobern. Auch in anderen Bereichen könnte die Lage rosiger sein – bei Android etwa, wo etwa die Rückhaltestrategie beim Quellcode von Android 3 einen sehr negativen Nachgeschmack hinterlassen.

In der Open-Source-Welt entstandene Produkte und Ideen durchdringen die Welt aber immer weiter und verändern in dem Zug auch die Gesellschaft. Wikipedia ist dafür ein gutes Beispiel; OpenStreetMap ein anderes, das dies Jahr noch mehr Anhänger und Nutzer finden dürfte. Damit die Aussichten gut bleiben, sind aber auch 2012 Idealisten gefragt, die freie Software und die Ideen dahinter vorantreiben und vertreten. (thl) (thl)