Der Riese wankt

Nokia war einer der Pioniere des Mobiltelefon-Geschäfts, doch inzwischen ist sein technologischer Ruhm verblasst. Ein neuer Technikvorstand soll jetzt die Führungsrolle des Unternehmens bei Innovationen zurückerobern.

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Von
  • William M. Bulkeley
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Nokia war einer der Pioniere des Mobiltelefon-Geschäfts, doch inzwischen ist sein technologischer Ruhm verblasst. Ein neuer Technikvorstand soll jetzt die Führungsrolle des Unternehmens bei Innovationen zurückerobern.

In einem Konferenzraum des riesigen Glas- und Stahlbaus von Nokia Research nahe Helsinki demonstriert Igor Curcio den Prototyp eines seiner Lieblingsprojekte: "Director's Cut", ein Online-Dienst zur automatisierten Videoproduktion aus Laien-Clips von verschiedenen Personen. Dazu laden Besucher einer Veranstaltung – eines Konzerts, einer Hochzeit oder eines Fußballspiels – ihre dort gedrehten Handy-Videos ins Internet hoch. Dann analysieren Computer Zeitstempel, Schärfe, Belichtungszeit und Tonqualität der Clips und bestimmen auf dieser Grundlage, welches Material an welcher Stelle in das Gemeinschaftsvideo aufgenommen wird. Bei einem Demo-Video von einem Konzert in Finnland erwecken schnelle Schnitte von einem Kamerawinkel zu anderen den Eindruck professioneller Berichterstattung, mehrere Audiospuren liefern die Musik dazu. Der Clip scheint gut genug für eine Ausstrahlung im klassischen Fernsehen zu sein.

Noch offen aber ist, wer solche Crowdsourcing-Videos sehen möchte – und ob Nokia damit Geld verdienen kann. Curcio, Informatiker mit dem Spezialgebiet Signalverarbeitung und früher Radio-DJ, hofft darauf, dass viele Menschen die Gelegenheit nutzen werden, professionell wirkende Videos zu produzieren. Nach seinen Worten dürfte ein solcher Dienst, der mit Bild- und Video-Uploads ordentlich Bandbreite in den Netzen benötigt, zudem attraktiv für Nokias wichtigste Partner sein: die Mobilnetzbetreiber, die seine Telefone verkaufen. Allerdings könnte die Idee an juristischen Bedenken scheitern: Nokias Rechtsanwälte machen sich Sorgen wegen der digitalen Video- und Audiorechte für Konzerte, Sportereignisse oder sogar Hochzeiten, wenn dort Musik läuft.

Projekte wie Director's Cut, so könnte man finden, gibt es in den Laboren von Nokia viel zu häufig. Vergangenes Jahr investierte das Unternehmen 2,9 Milliarden Dollar in Forschung und Entwicklung bei Endgeräten – viel mehr als jeder Konkurrent und doppelt so viel wie die gesamten F&E-Ausgaben von Apple. Doch die großzügig finanzierte Forschung hat zuletzt keinerlei Innovation mehr hervorgebracht, mit der Nokia gegen das iPhone und andere neue Smartphones bestehen könnte. "Nokia war der König der Branche und hatte das höchste Budget", sagt Howard Anderson, Wagniskapitalgeber und Dozent am Massachusetts Institute of Technology. Dann aber wurde das Unternehmen von neuer Konkurrenz schlicht "überrumpelt" – von Apples iPhone, das hauptsächlich als Internetgerät konzipiert war, während Nokia und andere Hersteller nur Telefone mit Internetzugang bauten.

Trotz seiner Probleme, bei Smartphones mit Apple und Google mitzuhalten, verkauft Nokia immer noch mehr Telefone als jeder andere Anbieter. Etwa 1,3 Milliarden Menschen weltweit haben ein Nokia-Gerät, sein voreingestellter Klingelton dürfte die meistgespielte Melodie aller Zeiten sein. Mit 56 Milliarden Dollar Umsatz im vergangenen Jahr ist Nokia eines der größten Technologieunternehmen Europas, und viele der 5,4 Millionen Einwohner Finnlands sind stolz auf ihre einstige Vorzeigefirma. Tatsächlich war Nokia, gegründet vor 150 Jahren als Papiermühle, entscheidend an der Verbreitung der ersten digitalen Mobilfunktechnik GSM beteiligt und 1992 bei der Einführung von SMS-Nachrichten erneut führend. Im Jahr 1998 bauten die Finnen das erste Telefon ohne externe Antenne, 2005 verkauften sie ihr einmilliardstes Handy, ein Nokia 1100 für Nigeria. Dieses Modell, auf den Markt gebracht 2003, dürfte mit 250 Millionen Einheiten das meistverkaufte Stück Konsumelektronik aller Zeiten sein.

Aber in der Branche der Mobilkommunikation ist nichts so vergänglich wie der Ruhm von gestern. Laut Jason Armitage, Mobil-Analyst bei der Yankee Group in London, ist die Nokia-Strategie, die den Branchenriesen jetzt ins Schleudern bringt, typisch für einen in seinem Bereich dominierenden Anbieter: Er segmentiert den Markt und bietet für jede Kundenklasse unterschiedliche Produkte an. "Dadurch hat Nokia die Gelegenheit vergeben, mit einem solitären Super-Design eine ganz neue Kategorie zu schaffen", erklärt Armitage.

Als Folge davon läuft das Unternehmen Gefahr, rasant seine Führungsposition auf einem der am schnellsten wachsenden Märkte der Welt zu verlieren. Mit Telefonen auf Basis des Symbian-Betriebssystems hatte Nokia die Anfangszeit der Smartphones dominiert, dann aber zog zuerst Apple und anschließend Google mit seinen Android-Geräten an den Finnen vorbei. "Symbian-Geräte werden mittlerweile als dumme Smartphones angesehen", sagt Anderson. Im zweiten Quartal 2011 gingen die Verkäufe von einfachen Nokia-Handys gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 16 Prozent zurück, die von teureren Smartphones sogar um 34 Prozent. Angesichts der fallenden Umsätze hat sich der Börsenwert von Nokia in den vergangenen zwei Jahren halbiert; mehr als 30 Milliarden Dollar Aktionärsvermögen lösten sich auf. Hat das 150 Jahre alte Unternehmen überhaupt noch eine Zukunft?

Wenn ja, dann dürfte sie entscheidend geprägt werden von Henry Tirri. Der frühere Leiter des Nokia Research Center mit rund 500 Forschern wurde in diesem Herbst zum Chief Technology Officer des Unternehmens befördert. Ein Jahr zuvor war mit Stephen Elop bereits ein neuer CEO berufen worden. Der ehemalige Chef der Microsoft-Geschäftskundensparte ist der erste Nicht-Finne an der Spitze von Nokia. Er lagerte zunächst die gesamte Software-Entwicklung und den Support für Symbian an Accenture aus – 2300 Mitarbeiter wechselten aus diesem Grund zu der Beratungsfirma. Für zukünftige Smartphones setzt Nokia unter Elop ganz auf das Microsoft-Betriebssystem Windows Phone.

Von Tirri wird jetzt erwartet, "die Richtung von Nokia und unsere Rolle in der Mobilbranche neu zu definieren", sagt Elop. Viel Zeit hat er dafür nicht: "Wir müssen uns schneller, härter und aggressiver bewegen als je zuvor", sagte der neue CEO in einem von Nokia im Web veröffentlichten Interview.

Das ist eine gewaltige Herausforderung für Tirri, den 54 Jahre alten Maschinenintelligenz-Forscher aus Finnland, der jetzt im Silicon Valley lebt. Als Forschungschef habe er nach "zukünftigen Disruptionen Ausschau gehalten", sagt Tirri, der zugleich Professor an der University of Helsinki und der Helsinki University of Technology ist. Jetzt muss er sich auch darum kümmern, "die technische Community um Nokia bei Laune zu halten". Außerdem soll er die Zusammenarbeit mit Microsoft aushandeln, Nokias Strategie zu geistigem Eigentum gestalten und Innovationen sowohl bei Highend-Smartphones als auch bei billigeren Geräten für Afrika und Asien entwickeln.

Tirri, dessen sanfte Art eher zu einem Akademiker passt als zu einem Top-Manager, pendelt jetzt häufig zwischen Kalifornien und Finnland. Im Nokia-Hauptquartier in Espoo, einem Vorort von Helsinki, hat er ein Büro mit Blick auf Birken, Tannen und einen Ostsee-Arm. Nokia wird auch weiterhin Wert auf Grundlagenforschung legen, kündigt er an: "In Zeiten wie diesen halten kluge Unternehmen an der Forschung fest. Denn die eröffnet Möglichkeiten." Als Leiter der Forschung sieht Tirri sich in der Rolle eines Wagniskapitalgebers, der über Vorschläge der Laborleiter entscheidet. Diese agieren im Vorfeld wie Früh-Investoren, die erste Arbeiten autorisieren und entscheiden, für welche Ideen Forschungsgruppen eingesetzt werden müssen – eine wichtige Grundregel besagt, dass Projekte, die 30 Mitarbeiter und mehr benötigen, das Potenzial haben müssen, mindestens eine Milliarde Dollar an Umsatz zu generieren.