Grundsatzurteil zu Massenklagen der Musikindustrie erwartet

Ein New Yorker Richter muss darüber befinden, ob er die Klage der Musikindustrie gegen eine New Yorkerin zurückweist. Seine Entscheidung könnte weit reichende Folgen haben.

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Der Ärger für den 16-jährigen Robert Santangelo begann vor fünf Jahren. Damals soll über eine bestimmte IP-Adresse urheberrechtlich geschütztes Material verbreitet worden sein. Weil es sich dabei um Musik handelte, interessiert sich die Musikindustrie brennend für den Fall. Der IP-Adresse wurde ein Telefonanschluss zugeordnet und der Anschlussinhaber, wie in tausenden ähnlich gelagerten Fällen zuvor auch, verklagt: Santangelos Mutter Patti. Doch die 42-Jährige weigerte sich, den von der Musikindustrie standardmäßig angebotenen Vergleich zu akzeptieren. Als sie das Verfahren ausfechten wollte, ließ die Musikindustrie die Klage im Dezember 2006 wie eine heiße Kartoffel fallen und nahm stattdessen ihre beiden Kinder ins Visier.

Während sich seine Schwester nicht rührte und zu einer Geldstrafe von 30.750 US-Dollar verurteilt wurde, wehrt sich auch Robert Santangelo nun mit einer Gegenklage. Er will den Fall vor einer Jury verhandeln lassen und wählt damit einen Weg, der schon in anderen Fällen erfolgreich war. Sein Verteidiger fährt schweres Geschütz auf, er wirft der Industrie Kartellbildung und Verschwörung vor. Aber vielleicht ist der ganze Spuk ja bald vorüber: In einem anderen Fall brütet ein New Yorker Richter gerade über einer Entscheidung, die wegweisend für viele ähnlich gelagerte Verfahren sein könnte. Dabei war der Fall zunächst kein besonderer: Ein großes Plattenlabel, vertreten durch den Verband RIAA, verklagt eine Schwesternschülerin aus der Bronx. Bewaffnet sind die Ankläger wie immer mit einer IP-Adresse, einer Telefonnummer und ein paar Songs. Tenise Barker, die Beklagte, widerspricht den Anschuldigungen. Auch sie hat einen umtriebigen Anwalt. Ray Beckerman kennt alle diese Fälle und führt ein Blog über die Klagewelle, mit der die Musikindustrie ihre Kunden überzieht. Und er rührt ordentlich die Trommel für diesen Fall.

Inzwischen geht es bei Elektra vs. Barker längst nicht mehr um ein paar getauschte Songs. Es geht um die Schlüssigkeit der Argumentationskette der Musikindustrie, um die Auslegung des US-amerikanischen Urheberrechts – und Berufsskeptiker sorgen sich sogar schon um die Zukunft des Internets. Ein Urteil wird zumindest Auswirkungen auf andere Fälle dieser Art haben. Deshalb will sich der zuständige Richter Kenneth Karas seine Entscheidung gut überlegen und nicht einfach einem anderen Urteil folgen. Er scheint, im Unterschied zu einigen seiner Kollegen, etwas vom Internet zu verstehen. Karas muss zunächst entscheiden, ob er den Prozess überhaupt weiterführt, denn Beckerman hat die Abweisung der Klage beantragt. Sein Argument: Die Musikindustrie kann eine Urheberrechtsverletzung nicht nachweisen. Alles, was sie habe, sei eine IP-Adresse, der dazugehörige Telefonanschluss und Hinweise darauf, dass in einem Tauschordner auf dem Rechner der Beklagten irgendwann mal ein paar Songs gelegen haben. Nach Beckermans Rechtsauffassung will das Gesetz es genauer wissen: Wann, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit hat seine Mandantin welche Songs angeboten, und wurden sie auch heruntergeladen?

So genau müsse sie das gar nicht beweisen, meint die Musikindustrie und führt ihr entscheidendes Argument ins Feld: Allein, dass die Daten zugänglich gemacht worden seien, bedeute eine Verbreitung im Sinne des Urheberrechts (DMCA) und eine Verletzung desselben. Sollte diese Auslegung Schule machen, fürchten zahlreiche Organisationen um die Zukunft des Netzes, denn dadurch werde das Urheberrecht unkontrollierbar, und viele derzeit legale Praktiken würden kriminalisiert. Schon ein simpler Hyperlink, mit dem Informationen zugänglich gemacht werden, wäre nach dieser Auslegung ein Vergehen. Angesichts der Brisanz haben sich zahlreiche Organisationen in Form von Gerichtseingaben schriftlich zu der Sache geäußert. Der Verband der Internetwirtschaft ist ebenso besorgt wie der Verband der Computerindustrie und die Electronic Frontier Foundation EFF. Auf der anderen Seite gibt sich die Filmbranche solidarisch. Sogar das US-Justizministerium hat sich zu dem Fall geäußert, Washington beobachtet die Vorgänge mit Interesse.

Die Standpunkte sind ausgetauscht, die Entscheidung liegt nun bei Richter Karas. Das kann dauern, sagt Beckerman. "Es könnte ein paar Wochen dauern, oder auch Monate", erklärte der Anwalt. "Der Richter versteht, wie wichtig es ist, dass er das Richtige macht. Er wird nichts übereilen." In welche Richtung Karas tendiert, wissen auch Prozessbeobachter nicht genau zu sagen. Dass der Jurist versteht, worum es geht, hat er dagegen demonstriert. Er soll den RIAA-Anwalt gefragt haben: "Wenn ich hier ein paar Papiere liegen lasse und Sie autorisiere, diese zu nehmen, habe ich sie dann auch erfolgreich an Sie verteilt, wenn Sie sie nicht genommen haben? Müssten Sie sie dafür nicht tatsächlich an sich genommen haben?" (vbr)