Die Dinosaurier-Brücke

In Japan wird Technik gezielt zu touristischen Attraktionen ausgebaut. Dieses Jahr werden in Tokio sogar zwei neue Pilgerstätten dieses Kults ergänzt.

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Von
  • Martin Kölling

In Japan wird Technik gezielt zu touristischen Attraktionen ausgebaut. Dieses Jahr werden in Tokio sogar zwei neue Pilgerstätten dieses Kults ergänzt.

Technik zu Attraktionen zu transformieren, ist eigentlich keine japanische Erfindung. Aber in Japan ist sie zum Prinzip erhoben: Kaum ein Symbol des Machbarkeitsstrebens wird davon ausgenommen. Das neueste Beispiel ist die 2,9 Kilometer lange, 1,1 Milliarden teure Tokyo Gate Bridge über einen Teil der Bucht von Tokio, die im Volksmund wegen ihrer Form auch "Dinosaurier-Brücke" genannt wird (eine Fotohommage finden Sie hier). Im Gegensatz zur Hamburger Köhlbrandtbrücke ist sie nicht nur mit Fahrspuren (mit Flüsterasphalt) gebaut worden, sondern auch mit einem Fußweg. Über zwei Türme wird der Zugang ermöglicht - wie es sich für eine touristische Attraktion gehört aber natürlich nur zeitlich beschränkt zwischen 10 und 17 Uhr. In ein paar Monaten kann auch der mehr als 634 Meter hohe Funkturm Tokyo Skytree befahren werden, der nicht zufällig so hoch ist. Seine Höhe wurde so gewählt, weil die Zahlen 6, 3 und 4 so ähnlich ausgesprochen werden können wie die alte Bezeichnung des Gebiets, in dem er steht (Musashi).

Für mich zeigt dabei besonders die Dinosaurier-Brücke zweierlei: Erstens sind die Planer in Japan bestrebt, touristische Attraktionen zu schaffen. Dies beschränkt sich nicht nur auf die Technik, sondern einfach alles. Jede Präfektur pflegt mit großer Hingabe charakteristische Blumen, Produkte und Lebensmittel – und baut sich mehr oder weniger sehenswerte Sehenswürdigkeiten, um sich als Reisedestination zu empfehlen. Doch Techno-Tourismus ist Pflicht – als industriepolitische Propagandamaßnahme.

In Japan herrscht geradezu ein Kult des "Monozukuri", der Idee des Herstellens von Dingen. Und technische Meisterleistungen sind die Tempel dieses Kults. Sie sind wichtig, um das Volk strategisch bei der Stange zu halten. Denn Japans Establishment pflegt allen Mangas und Animes zum Trotz ähnlich wie Deutschland noch immer die Idee, eine Industrienation zu sein. Bonzen, Bosse und Beamte widersetzen sich daher geistig nach Kräften dem Trend, dass der Dienstleistungssektor in den Industrieländern immer stärker wird. Nur erlebt diese Philosophie gerade ihren geistigen Gau.

Erstens schürt der Höhenflug des Yen die Sorge, das Japan als Produktionsstandort vernichtet wird. Die Angst war vielleicht nur nach der ersten Ölkrise im Jahr 1973 größer. "Diesmal erleben wir eine industrielle Aushöhlung an der Wurzel", warnt Yoshiyuki Shiga, Chief Operating Officer von Nissan. Japan drohe diesmal nicht nur, arbeitsintensive Massenproduktion zu verlieren, sondern seine industrielle Grundkompetenz, so Shiga. Das sind auch die Kleinunternehmen. Denn die Großkonzerne verlagern nicht mehr nur Fabriken, sondern auch den Einkauf von Bauteilen nach Übersee, um in Japan noch profitabel und zu wettbewerbsfähigen Preisen produzieren können. Zweitens droht ein Mangel an Ingenieursnachwuchs, der ja auch in Deutschland nicht unbekannt ist. Die Propagierung des Techniktourismus ist einer der Versuche, die Jugend für den Kult des Monozukuri zu begeistern. Und drittens hat der Tsunami am 11. März 2011 nicht nur die hohen Schutzmauern überspült und ganze Städte und den AKW-Komplex Fukushima 1 zerstört, sondern damit auch den Glauben, dass der Mensch die Natur beherrschen könnte.

Dennoch: Ich mag diese Form der Anbetung des technisch Machbaren – ganz pragmatisch aus ästhetischen Gründen. Denn wie bei der Dinosaurier-Brücke sind die Bauwerke und ihre Umgebung extrem sehenswert. Von der Brücke können Besucher ein einfach umwerfendes 360-Grad-Panorama von der Bucht von Tokio inklusive Tokios Skyline und dem Fuji genießen, der im Hintergrund über der Millionenmetropole zu schweben scheint. Dies gilt zwar nur eingeschränkt im schwülen Sommer, aber um so mehr für den Tokioter Winter, wenn eine konstante Föhnwetterlage fast jeden Tag für knochentrockene Luft und damit grandiose Fernsicht sorgt und die Sonne hinter dem massiven Berg untergeht. Meine Freunde und ich hatten an diesem Wochenende sogar das unverschämt große Glück, dass die Sonne direkt in den Krater des 100 Kilometer von der Brücke entfernten japanischen Nationalberges gesunken ist. Den Tokyo Skytree muss ich mir leider für kommenden Winter aufsparen, da er die Aussichtsplattformen in 350 und 450 Meter Höhe noch nicht für Touristen geöffnet ist. (bsc)