Japan in der Schwebe

Ein Jahr nach der Kraftwerkskatastrophe von Fukushima zeigt sich immer deutlicher, wie schlecht die Hightech-Nation Japan auf ein Versagen ihrer nuklearen Technik vorbereitet war.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 1 Kommentar lesen
Lesezeit: 16 Min.
Von
  • Martin Kölling
Inhaltsverzeichnis

Ein Jahr nach der Kraftwerkskatastrophe von Fukushima zeigt sich immer deutlicher, wie schlecht die Hightech-Nation Japan auf ein Versagen ihrer nuklearen Technik vorbereitet war.

"Betreten verboten" – in großen Schriftzeichen leuchtet das Schild an der Straßensperre in der Kleinstadt Minami-Soma auf. 20 Kilometer nördlich des havarierten Atomkraftwerks (AKW) Fukushima 1 bewachen Polizisten die Sperrzone. Am 11. März 2011 verloren hier nicht nur Tausende Familien ihre Häuser durch einen Riesen-Tsunami, den ein Beben der Stärke 9 auf der Richter-Skala ausgelöst hatte. Viele verloren am nächsten Tag durch den Atomunfall auch ihre Heimat. Trotz des Verbots herrscht am Kontrollpunkt reger Verkehr – und Routine. "300 bis 400 Autos passieren unseren Posten täglich", erzählt ein Polizist.

Nur ein kurzer Blick auf die Sondergenehmigung, und schon winkt er wieder einen Wagen durch. Meist sind es Arbeiter, die in der Sperrzone aufräumen, vielleicht auch in der Umgebung des AKWs Reparaturarbeiten ausführen, so ganz genau weiß der Polizist das nicht. "Aber es sind auch immer mehr Bewohner der Sperrzone darunter, die kurz die verlassenen Häuser oder Gräber ihrer Familien besuchen." Schutzkleidung oder Atemmasken trägt niemand. "Inzwischen wissen alle sehr genau, wo es gefährlich ist und welches Risiko sie eingehen", sagt der Polizist. Minami-Soma ist eine Art Testlabor für die nachatomare Zukunft Japans: Der Süden und Westen der Gemeinde liegen in der permanenten Evakuierungszone, das Zentrum hingegen in dem zehn Kilometer breiten Ring, der erst später im Mai 2011 evakuiert wurde.

Ende September hob die japanische Regierung die Evakuierungsverfügung für diese Zone wieder auf. Wie unter einem Brennglas bündeln sich in dieser Region Fragen, die auch ein Jahr nach der Atomkatastrophe noch offen sind: Wie können die Menschen in einer dicht besiedelten Industrienation mit havarierten Atommeilern leben, die noch Jahrzehnte strahlen, bis sie vielleicht einmal abgebaut werden können? Wie riskant ist die Lage im AKW Fukushima 1 mit seinen vier zerstörten Meilern noch, und was wird mit ihnen passieren? Und wird Japan, das nur ein Jahr vor dem Unfall einen massiven Ausbau seines Atomprogramms beschlossen hat, künftig aus der Atomenergie aussteigen oder weiter auf sie setzen?

Ein Drittel der ehemals 70000 Einwohner von Minami-Soma sind noch nicht zurückgekehrt. Die Mehrheit hat sich aber entschlossen, mit dem Strahlungsrisiko zu leben. In Sichtweite des Checkpoints trocknen Bewohner Wäsche auf ihren Balkonen. Auf einem Sportplatz sechs Kilometer außerhalb des 20-Kilometer-Checkpoints trainieren Mittelschüler für die Baseballsaison. "Wir können sie ja nicht aus Angst vor Strahlung für immer im Haus festhalten, dann ersticken sie ja", sagt ihr Coach.

Notgedrungen sind die Bewohner im Schnelldurchlauf zu Strahlenschutzexperten geworden. Rumiko Ogai etwa, eine Hausfrau aus der Stadt Minami-Soma, kann inzwischen nicht nur die verschiedenen Einheiten für Strahlenmessungen auseinanderhalten: Sievert für die biologische Wirkung der Strahlung (je länger sie einwirkt, desto größer sind die Schäden) und Becquerel für die Anzahl radioaktiver Zerfälle pro Sekunde (je schneller eine Substanz zerfällt, desto intensiver strahlt sie). Ogai und ihre Freunde haben auch gelernt, dass über die Nahrung oder die Atemluft aufgenommene radioaktive Isotope weitaus schädlicher sind als die externen Strahlendosen – und dass den amtlichen Beteuerungen, wonach keine verstrahlten Lebensmittel in den Handel kommen, nicht zu trauen ist.

Ogai sitzt im Gemeinschaftsraum der 27 Containersiedlungen für die Evakuierten. Neben ihr sehen die 52-jährige Nobuko Urajiri und das Rentnerpaar Matsumoto aus der Evakuierungszone fern. Alle haben sie ihre Häuser in der Flut verloren. Essen aus Fukushima und Leitungswasser kämen bei ihnen nicht auf den Tisch, sagen die Matsumotos und Urajiri. Ogai ist weniger streng, überlässt aber nichts dem Zufall. In vielen Gegenden von Minimi-Soma läge die Strahlung nur vier- bis sechsmal höher als vor dem Unfall. "Ich esse Gemüse aus dem eigenen Garten, lasse es aber auf Strahlung untersuchen", sagt sie.

Die Regierung hat nur Lebensmittel aus der Evakuierungszone flächendeckend verbannt. Im größeren Umkreis um das havarierte AKW hingegen wird indes nur der Verkauf aus Ortschaften oder Feldern verboten, die stärker als 5000 Becquerel pro Kilogramm strahlen. Allerdings ermittelten die Behörden erst nach sechs Wochen, wie stark die Böden strahlen, und räumten die Regionen, in denen die resultierende Strahlendosis über dem amtlichen Grenzwert für Evakuierungen von 20000 Mikrosievert pro Jahr lag. Das Ergebnis ist ein für Verbraucher undurchsichtiger Flickenteppich aus Verboten: Milch aus elf Städten Fukushimas ist gebannt, Shiitake-Pilze aus drei Städten, Reis aus drei Städten und einigen weiteren Gebieten. Darüber hinaus gab es zuerst gar kein staatliches Kontrollsystem, und das inzwischen aufgebaute ist so löchrig, dass immer wieder zu stark belastete Lebensmittel und auch Baustoffe in den Handel gelangen.

Am größten ist das Chaos allerdings bei der Entseuchung von Häusern, Obsthainen und Böden. Auch hier mussten die Bürger den Strahlenschutz anfangs in die eigene Hand nehmen, weil die einzige Maßnahme des Staates zunächst nur darin bestand, den gesundheitlich vertretbaren Grenzwert von einem auf 20000 Mikrosievert pro Jahr hochzusetzen – einen Wert, der sonst nur Arbeitern in AKWs zugemutet wird und nun auch für Kinder galt. Als die Zentralregierung dann im Spätsommer 2011 endlich Entsorgungspläne bekannt gab, wollte sie sich auch nur um hochgradig verstrahlte Zonen kümmern; für den Rest waren die Gemeinden und Bürger selbst verantwortlich.

Derzeit vergraben die Menschen wie amtlich empfohlen die abgekratzte Erde oft in einem mit Plastikplanen ausgeschlagenen Loch. Wie lange das Erdreich dort bleiben soll, ist ungeklärt. Allerdings gibt es noch immer keine geeigneten Endlagerstätten für die Millionen Tonnen an strahlendem Erdreich, Schutt, Blättern und Borken, die abgetragen werden müssen. Die Regierung will daher neben den Atomruinen in der Gemeinde Futaba, die noch für Jahrzehnte unbewohnbar bleiben wird, eine oberirdische Endlagerstätte bauen und sie mit einer besseren Abschirmung ausstatten als bisherige Provisorien mit Plastikplanen. An sich klingt der Ort nach einer logischen Wahl, doch Futabas Bürgermeister wehrt sich gegen den Plan, weil damit jede Hoffnung auf Rückkehr schwindet.