Die Vordrängelmaschine

Jungtiere wissen: Es reicht nicht, niedlich zu sein – man muss sich möglichst als erster zur Nahrung durchkämpfen. In modernisierter Form ist diese Strategie nun auch im Internet-Zeitalter angekommen.

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Von
  • Peter Glaser

Jungtiere wissen: Es reicht nicht, niedlich zu sein – man muss sich möglichst als erster zur Nahrung durchkämpfen. In modernisierter Form ist diese Strategie nun auch im Internet-Zeitalter angekommen.

In San Francisco gibt es Restaurants, in denen man sich mit Hilfe seines Smartphones vordrängeln kann. Sie gehören der Fastfood-Kette The Melt, die auf Grillkäse spezialisiert ist. Man kann sein Sandwich auf althergebrachte Weise bestellen, indem man sich anstellt und dann einem Angestellten sagt, was man möchte – oder man übergeht die Schlange und ordert per Smartphone, woraufhin man einen QR-Code geschickt bekommt (eines dieser pixeligen quadratischen Muster, die viel cooler und futuristischer als Barcodes aussehen), Den hält man an ein Lesegerät in dem Restaurant und zack, geht die Bestellung auf den Grill und ist innerhalb von zwei Minuten fertig. Ein künftiges Feature namens Geofencing soll ermitteln können, wann man sich in der Nähe einer Filiale befindet und einem eine SMS schicken, ob sie nicht schon mal ein Käsesandwich auf den Grill legen sollen, falls man zufällig gerade auf dem Weg sei. 5,95 Dollar für ein Sandwich ist zwar ziemlich teuer, aber dem Fortschritt sind Opfer zu bringen.

Das Vordrängeln jedenfalls hat sich von einer uralten zu einer hochmodernen Überlebenstechnik weiterentwickelt. Eine ganze Industrie, die sogenannte Suchmaschinen-Optimierer (die allerdings Suchmaschinen keineswegs optimieren), lebt beispielsweise davon, Einträge in den Trefferlisten bei Google so weit wie möglich nach vorne durchzuschieben. Wenn das Drängeln, im übrigen ein nicht besonders beliebter sozialer Vorgang, außer Kontrolle gerät, kann es ungemütlich werden. Als Mitte Januar im Apple-Store in Peking die ersten Exemplare des iPhone 4 verkauft werden sollten und die wartenden Massen eine Art Stampede verursachten, wurde der Laden kurzerhand geschlossen, was zu weiteren Unruhen führte. Die am Drängeln Gehinderten begannen zu randalieren und mit rohen Eiern zu werfen.

Auch wenn sie in bestimmten Dingen sehr schnell sind, haben Computer die Frage des Wartens und der Drängelnotwendigkeit nur scheinbar gelöst. Erinnerte ursprünglich noch vieles an reale Warteschlangen, etwa die Lochkartenstapel, die von der Maschine gemütlich abgenagt wurden, war mit der Einführung des Multitasking sozusagen die Einstiegsdroge in die Illusion verfügbar geworden, der Rechner könne mehrere Menschen gleichzeitig bedienen. Nach wie vor stehen in Wirklichkeit die Bits im Chip Schlange.

Dass Kommunikation, die durch Maschinen stattfindet, auf eine merkwürdige Weise privilegiert ist, ist nichts Neues ist – höchstens das Ausmaß, das sie angenommen hat. Wo Kommunikation technisch transportiert wird, scheint eine geheimnisvolle Zunahme an Wert stattzufinden. Das apparativ Mitgeteilte bekommt eine Art Blaulicht aufgesetzt. Wer in einer Schlange vor einem Schalter steht, kann sich jederzeit davon überzeugen, dass der Mann dahinter, wenn es klingelt, sofort das Telefon abnehmen wird – wie lange auch immer die Schlange sein mag. Würde man sich vordrängeln und ihm eine Münze im Gegenwert eines Telefongesprächs hinlegen, um sofort dranzukommen, man würde belächelt. (bsc)