Der Tag, vor dem Tokio sich fürchtet

In den letzten Wochen wurden die Erdbebenszenarien für Tokio verschärft. Und plötzlich können die Hauptstädter eine elementare Wahrheit nicht mehr verdrängen: Der größten Mega-City der Welt droht ein Mega-Beben.

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Von
  • Martin Kölling

In den letzten Wochen wurden die Erdbebenszenarien für Tokio verschärft. Und plötzlich können die Hauptstädter eine elementare Wahrheit nicht mehr verdrängen: Der größten Mega-City der Welt droht ein Mega-Beben.

Bin ich paranoid? Habe ich mich anstecken lassen von der Erdbebenangst, die unterschwellig immer mehr Menschen in Tokio erfasst? Auf einmal folge ich brav den uralten Ratschlägen der Regierung zur Erdbebenvorhersorge. Ich lasse Wasser in der Badewanne, habe genug Müsli und Trinkwasser für mindestens zwei Wochen im Haus und Bargeld in kleinen Scheinen im Fluchtrucksack. Einige meiner Mitmenschen machen sogar etwas mehr als das. Bekannten haben sich gerade ein Notstromaggregat (mit Benzinmotor) in die Wohnung gestellt haben. Und ich ertappe mich bei dem Gedanken: "Gute Idee!" Wenn für Tage die Lichter ausgehen, könnte ich wenigstens mein Handy, meine Spiegelreflexkamera und mein Notebook aufladen, und die Katastrophe dokumentieren.

Die Furcht der japanischen Hauptstädterseele hat einen Grund: Ein Jahr nach der dreifachen Katastrophe, die in ihrem Ausmaß die Japaner total überrascht hat, verschärfen die Seismologen die Erdbebenszenarien für Tokio. Früher war die amtliche Sprachregelung, dass Tokio mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein Beben der Stärke 7 auf der Richterskala in den kommenden 30 Jahren blühe. Nun hat ein Forscher den Erwartungshorizont auf vier Jahre verkürzt – und damit den Menschen die Gefahr akut vor Augen geführt.

Mit der neuen Vorhersage hat sich zwar an sich nichts geändert. Als ich vor elf Jahren nach Japan kam, sagte man mir schon, dass das nächste große Erdbeben im Großraum Tokio überfällig sei. Das letzte, ein Beben der 8er-Klasse, hatte 1923 etwa 140.000 Tote gefordert. Und wie damals kann es in der nächsten Sekunde auftreten – oder erst in 50 Jahren. Es geht ja nur um Wahrscheinlichkeiten. Aber wenn das sorgsam verdrängte Ferne plötzlich zur nahen Gewissheit zu werden scheint, können auch Japaner die Gefahr nicht mehr ignorieren. Zumal ein paar Tage später eine Regierungsstudie nahelegte, dass die Horrorszenarien für ein Erdbeben noch blutiger ausfallen müssen.

Forscher haben im Auftrag des Ministerium für Erziehung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technik herausgefunden, dass das Epizentrum des amtlichen Worst-Case-Szenarios, einem Beben der Stärke 7,3 auf der Richter-Skala unter dem nördlichen Teil der Bucht von Tokio, zehn Kilometer flacher unter dem Meeresboden liegen könnte als bisher geschätzt wurde. Die Erdstöße würden Tokios Zentrum daher nicht mehr wie bisher kalkuliert mit einer Stärke 6+ auf der siebenstufigen japanischen Erdbebenskala treffen, sondern mit dem Höchstwert 7. Der steht für großflächige Zerstörung.

Ich musste schlucken. Schon der bisherige Worst-Case war schrecklich genug: Ich habe ihn schon häufiger an dieser Stelle genannt, aber tue es gerne noch mal. Ein Abend im Dezember, 18 Uhr. In der Küche der Tokioter wird das Essen gekocht, ein Millionenheer von Pendlern drängt in die Züge und Kneipen. Plötzlich rasen Erdstöße durch die Stadt. Vor allem ältere Häuser brechen zusammen, viele gehen in Flammen auf, weil starker Wind ein Flammenmeer entfacht.

Am Ende werden 850.000 Gebäude zerstört, tausende Menschen verletzt und 11.000 Menschen getötet. Und die Wirtschaft des Landes wird extrem hart getroffen, weil alle Ministerien, die Großbanken, Versicherer und viele Konzerne ihre Hauptquartiere in Tokio haben. Rund 1000 Milliarden Euro könnte der Schaden betragen, das ist fast ein Fünftel von Japans Bruttoinlandsprodukt. Und dass, obwohl Japan die erdbebensichersten Gebäude der Welt hat.

Doch selbst Japans Politiker halten dieses Worst-Case-Szenario für zu rosig. Einer sagte mir mal, dass es auch gerne 100.000 oder mehr Tote geben könnte. Oder noch mehr? Der Seismologe Katsuhiko Ishibashi warnte voriges Jahr, dass ein "sehr starkes Beben" auch modernere Hochhäuser zusammenbrechen lassen könnte. Als ich ihn fragte, ob denn das Erdbeben der Stärke 7,3 von Kobe, bei dem 1995 6400 Menschen starben und auf dem der Tokioter Worst-Case aufbaut, ein solch starkes Erdbeben sei, antwortete er nur trocken mit "Nein". Ein richtig starkes Erdbeben sei eines der Klasse 8. Und das könne jederzeit vor der Küste Chibas – das heißt vor Tokios Haustür – losbrechen, sagte mir ein anderer Erdbebenforscher.

Durchgerechnet hat dieses Szenario offiziell noch niemand. Die amtliche Begründung lautet, dass die 8er-Beben nur alle 200 bis 300 Jahre vorkommen und wir uns darum derzeit nicht zu sorgen brauchen. Ist ja noch mindestens 110 Jahre hin. Aber ich denke, dass sich niemand traut, den Ernstfall zu simulieren. Denn das Ergebnis könnte den mühsam geschmiedeten, aber fragilen Panzer aus Verdrängung und einer guten Portion Fatalismus anknacksen, mit dem alle Japaner ihre Seele vor der überall im Land lauernden alltäglichen Erdbebengefahr schützen. Auch Japaner sind nur Menschen. Und den Schutzmechanismus aufrechtzuerhalten, ist zwar alternativlos, weil man nirgendwo sicher ist. Aber es erfordert durchaus seelische Energie.

Politik, Unternehmen und Medien schalten daher bereits in den Beschwichtigungsmodus. Kein Tag vergeht, als dass nicht ein neues Beispiel für verbesserten Erdbebenschutz durch den Blätterwald weht. Sogar an den Bau eines Krisenzentrums für die Regierung in Japans zweitgrößter Industriemetropole Osaka wird geplant, aus dem das Land regiert werden könnte, wenn Tokio durch ein Beben gelähmt werden sollte. Die Botschaft ist klar: Die Tokioter wollen nun nach Jahren des tektonischen Dornröschenschlafs ihre Stadt noch erdbebensicherer machen. Besser spät, als nie.

Nachwort: Am Mittwochabend nach dem Verfassen dieses Textes hatten wir in Japan wieder zwei starke Erdbeben. Am späten Nachmittag bebte erst ganz weit vor der Küste von Nordost-Japan die Erde mit einer Stärke von 6,8 auf der Richterskala. Selbst in Tokio waren die Erschütterungen zu spüren, wenn auch nur ganz leicht. Am Abend allerdings schwankten die Hochhäuser der Hauptstadt beträchtlich, weil die Erde direkt vor Tokios Haustür – an der Küste der Nachbarpräfektur Chiba – mit einer Stärke von 6,1 gewackelt hatte.

Experten warnen, dass es dort jederzeit ein Beben der Stärke 8 geben könnte, das auch Tokio noch unangenehm hart treffen würde. Dieses Beben lädt zu weiteren düsteren Visionen ein: Einer Studie zufolge ist die Gefahr eines starken Bebens am südlichen Ende der Bruchzone des Mega-Bebens vom vorigen Jahr gewachsen, weil sich die Spannungen der Simulation zufolge in der Region massiv erhöht haben könnten. Und: Dem Mega-Beben vor einem Jahr ging auch ein starkes Beben voraus. (bsc)