Taschen-Transformer

Bislang waren Dinge zumeist etwas Begrenztes und Festgelegtes. Durch die Digitalisierung wird diese Eindeutigkeit verflüssigt.

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Von
  • Peter Glaser

Bislang waren Dinge zumeist etwas Begrenztes und Festgelegtes. Durch die Digitalisierung wird diese Eindeutigkeit verflüssigt.

In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts erblühte die Idee, sich ständig verwandeln zu müssen. In Gestalt bemerkenswerter Produkte materialisierte sich der Gedanke auf zum Teil paradoxe Weise: Sofas wurden zu riesigen, roten Lippen, Sessel zu jederzeit deformierbaren Säcken, ein Schlüsselanhänger konnte plötzlich ein Spiegelei aus Weichplastik sein. Es war eine große, analoge Vorübung für das, was uns heute an digitaler Produkt-Travestie entgegenstürmt.

Als ich zum zweiten Mal in Ägypten war, wusste ich bereits, wie man Touristen erkennt, die gerade erst angekommen und zum ersten Mal da sind. Wenn sie bezahlen oder Bakschisch geben wollen, drehen sie die Geldscheine (in Ägypten wird praktisch nur mit Papiergeld bezahlt) immer wieder von einer Seite auf die andere. Das heißt, sie finden gerade heraus, dass die Werte der ägyptischen Pfund-Noten auf der einen Seite in arabischen Ziffern und arabischem Text angegeben sind, und auf der anderen Seite, tja: in dem, was wir arabische Ziffern nennen, nebst Text in lateinischen Buchstaben ("Ten Pounds").

Etwas ähnliches in digitaler Form haben sich die Leute von Nokia Research ausgedacht. Unter dem Namen "Gem" hat man dort das Konzept für ein neues Telefon vorgestellt, bei dem das gesamte Gerät zu einem Touchscreen wird – vorne, hinten und an den Seiten. Wenn man Luft visualisieren könnte, ließe sich das Handy wohl unsichtbar machen. Je nachdem, ob es gerade als Kommunikationsmaschine, Kamera oder Navigationssystem benutzt wird, ändert das Gem dann sein Aussehen. Das gesamte Telefon wird zu einem interaktiven Bildschirm, genauer gesagt zu einem Touchquader, der sich dem jeweiligen Einsatzzweck anpasst. So kann beispielsweise auf der Rückseite in ein Bild oder eine Karte hineingezoomt werden, während auf der Vorderseite eine Übersichtsdarstellung zu sehen ist. Man kann auch das ganze Telefon in ein Bild hüllen, so als sei die Maschine darin eingewickelt. Das Telefon kann so seine Oberfläche perfekt den Vorlieben seines Besitzer anpassen. Ein Standardaussehen soll es nicht geben.

Dass es Produkte gibt, die aussehen wie etwas, das sie nicht sind, hat zu tun mit der dem Menschen zutiefst innewohnende Lust an Verkleidungen (Klamotten, nicht Gehäuseverkleidungen), Die überträgt er aber auch gern auf die von ihm geschaffenen Dinge (also doch Gehäuseverkleidungen). Was seine Wurzeln in einer uralten Überlebenstechnik hat, nämlich der Tarnung, hat sich inzwischen zu einem zentralen Feature der digitalen Welt entwickelt. Mit dem Prinzip der Simulation ist das So-tun-als-ob zu einem universalen Prinzip geworden.

Das extrem wandelbare Nokia-Gadget zeigt einen der Wege, den unser digitales Equipment nun einschlägt. Er führt in eine gewissermaßen biologische Richtung. Was auf uns zukommt, sind Chamäleon-Maschinen. Sie stehen für jene Phase des seit zwei Jahrzehnten andauernden Hightech-Hypes, die auf die Status-Ära folgt, in der wir uns gerade noch befinden.

Was in den sechziger Jahren Bewusstseinsveränderung sein sollte, heißt heute Mobilität und Flexibilität. Wir möchten uns immer weniger gern festlegen, und die Technik soll uns dabei möglichst entgegenkommen. Zwar ist der Unterschied zwischen dem Klassiker der Immobilität, einem Eigenheim, und einem Wohnwagen, also einer mobilen Immobilie, nach wie vor wahrnehmbar. Aber im Inneren hat der Auflösungsprozess längst begonnen. Immer mehr Möbel stehen auf Rollen, können jederzeit anderswohin. Jobs sind immer freier transformierbar – jemand, der heute Wirtschaftsminister war, kann morgen Verteidigungsminister sein. Der Computer schließlich macht aus der begrenzten Karnevalszeit ein ganzjähriges Kostümfest der Ideen und Werkzeuge. Er ist eine Maschine, die sich zunehmend erfolgreich in alle anderen Maschinen und Medien zu verwandeln versucht, die zuvor in analoger Form schon da waren oder jetzt erst durch die Software-Leichtigkeit der Welt möglich und machbar geworden sind. (bsc)