Schnapsbrennerei für verschärftes Wissen

Es gibt einen neuen Gemeinsinn, der sich mit netztypischer Geschwindigkeit entfaltet. Die Wiki-Idee ist der Star unter den dazugehörigen Werkzeugen.

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Von
  • Peter Glaser

Es gibt einen neuen Gemeinsinn, der sich mit netztypischer Geschwindigkeit entfaltet. Die Wiki-Idee ist der Star unter den dazugehörigen Werkzeugen.

Im Dezember 2010 war ich zu einem Treffen mit Bloggern und Internet-Experten nach Peking eingeladen. Bei einem Abendessen, zu dem die deutsche Gesandtschaft in der chinesischen Hauptstadt gebeten hatte, kam ich mit einem jungen Diplomaten ins Gespräch. Launig fragte er, ob ich schon seine Depeschen vom Vortag auf WikiLeaks gelesen hätte. Auf dem Rückflug eine Woche später fotografierte ich in Amsterdam aus dem Fenster des Transferbusses übers Rollfeld. "Morgen", sagte der Fahrer, "werden wir das alles bei WikiLeaks sehen." WikiLeaks global – Cablegate. Ende November waren 250.000 vertrauliche Kabel aus US-Botschaften bei WikiLeaks veröffentlicht worden.

WikiLeaks war überall – Wikis überhaupt. Auch die US-Nachrichtendienste nutzen Wikis. Thomas Fingar, vormals Chairman des National Intelligence Council, schwärmt von der eigens für die Intelligence Community entwickelten "Intellipedia", einem Wiki, das auf deklarierte Autorschaft Wert legt. "Es ist eine Art Wikipedia für geheime Netzwerke", erläutert Fingar. "Nicht anonym. Wir möchten, dass sich die Leute eine Reputation aufbauen. Wenn jemand wirklich gut ist, möchten wir, dass die anderen im Netz auch wissen, dass er wirklich gut ist. Wenn jemand etwas beiträgt, soll man das wahrnehmen können. Und wenn jemand ein Idiot ist, wollen wir, dass man das auch mitkriegt."

1994 suchte der amerikanische Programmierer Ward Cunningham nach einem Namen für eine Software. Jeder sollte damit im Internet veröffentlichen können, ohne erst umständlich lernen zu müssen, wie man Web-Seiten codiert. Cunningham erinnerte sich an einen Aufenthalt auf Hawaii, bei dem ihn jemand am Honolulu International Airport auf die Shuttle-Busse aufmerksam gemacht hatte. Sie heißen "Wiki Wiki"-Busse, nach dem hawaiianischen Wort "Wiki" für "schnell". (Kurioserweise beklagten viele Passagiere, die seit 1970 im Einsatz befindlichen Busse seien nicht klimatisiert, überaltet – und zu langsam. Inzwischen sind sie weitgehend durch Laufbänder ersetzt worden.) Cunningham gefiel der Wortzwilling, also nannte er seine neue Website WikiWikiWeb.

Ein Wiki ist so etwas wie eine Schnapsbrennerei für verschärftes Wissen. Aus Infotrauben, die von verschiedenen Orten und Pflückern zusammengetragen werden, entsteht im Laufe der Zeit ein immer weiter konzentriertes, immer klareres und verfeinertes Destillat. Anders als in Blogs oder Online-Foren, wo Themen einem chronologischen Verlauf folgen, verdichtet sich der Stoff in einem Wiki zunehmend. Aus Daten und Informationen wird Wissen. Wer ein Wiki beitritt, der holt sich eine lange verloren geglaubte Gewissheit zurück, nämlich: etwas tun zu können und nicht einfach nur die Welt zu konsumieren. Wer zum Wikitum konvertiert, glaubt daran, dass die Welt edierbar ist.

Dieser Superstar unter den Wikis, die Wikipedia, ist inzwischen nicht mehr nur die größte Hausaufgabenmaschine der Erde. Er wächst auch zu einer Plattform politischen Widerstands heran. Als die italienische Wikipedia gegen einen staatlichen Maulkorberlass streikte und alle Zugriffe auf eine Protestnote umleitete, zeigten sich die Einflussmöglichkeiten einer Online-Enzyklopädie: Der Gesetzesentwurf wurde entschärft; seit dem Ende der Regierung Berlusconi hat man nicht wieder von ihm gehört. Am 18. Januar 2012 wurde die englischsprachige Wikipedia neuerlich aus Protest gegen die in den USA geplanten restriktiven Internet-Gesetze für 24 Stunden abgeschaltet. Auch Netzschwergewichte wie Google, Mozilla und sogar das Katzenblog-Imperium Icanhascheezburger.com schlossen sich dem Protest an. Die Verabschiedung der Gesetze wurde ausgesetzt.

Wir brauchen heute Texte, die gemeinschaftlich entstehen, weil wir auf ein gemeinschaftliches Verständnis der Welt angewiesen sind. Eine gewisse Offenheit ist dabei Grundvoraussetzung. Hier wird auch klar, was ein Wiki so unverwechselbar macht: die offenen Texte, die damit entstehen, sind auf eine ganz besondere Art legitimiert – weil sie so fragil sind. Sie können nur existieren, wenn alle, die an einem Ergebnis interessiert sind, auch dafür sorgen, dass sie sich aus Veränderungen und Verbesserungen entwickeln können. (bsc)