Lob der Anonymität

Ich bin gegen ein Vermummungsverbot im Internet. Ich bin für das Recht auf anonyme Kommunikation. Und nun raten Sie mal, ob ich auch kleine Kinder fresse.

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Eins muss man den Piraten ja lassen. Sie sorgen für Abwechslung im Blätterwald. Keine Talkshow, kein Interview und keine Titelseite ohne der Piraten. Kürzlich hat auch der Spiegel - das „Sturmgeschütz der Demokratie“ - eine volle Breitseite gegen die Partei abgeschossen. Fazit: Die Jungs sind vielleicht nett, aber ein bisschen blöd und vertreten gefährliche Ideen.

Das wird gleich auf neun Seiten erklärt: Drei für einen Bericht über den wachsenden Unmut von Intellektuellen und Künstlern am „zu laxen Umgang mit geistigem Eigentum“ der Piraten, zwei Seiten Essay über Anonymität und Freiheit und vier Seiten Streitgespräch zwischen dem Rapper Jan Delay und dem Abgeordneten Christoph Lauer.

Das schönste Stück ist das von Dirk Kurbjuweit über Anonymität und Freiheit. Der zieht alle Register, um mal wieder zu belegen, dass jemand, der nichts zu verbergen hat, auch keine Überwachung fürchten muss.

Als Kronzeugen zitiert K. den britischen Philosophen Isaia Berlin, der ja in seinem „bahnbrechenden Essay“ mit dem Titel „Zwei Freiheitsbegriffe“ bereits 1958 geschrieben hat, dass die „Freiheit der Wölfe der Tod der Lämmer“ sei. Mit anderen Worten: Zuviel Freiheit ist gefährlich, weil dann schnell das nackte Faustrecht herrscht. Wo anonyme, pöbelnde Horden aus reiner Lust am Chaos Wehrlose fertig machen.

Als Beleg führt der Autor die Angst vor dem - mittlerweile sprichwörtlichen - Shitstorm an, die dazu führt, dass sich mittlerweile niemand mehr kritisch zu Themen wie Urheberrecht und der Gratis-Kultur im Internet äußern kann. Wer das tut, wird von einem anonymen Mob aus Übelste beschimpft und terrorisiert. Deswegen schweigen Viele. Oder sagen jedenfalls nicht falsches. Hat jemand „Gleichschaltung“ gesagt? Nein, aber es ist „erbärmlich“... „sein Gesicht nicht zu zeigen, seinen Namen nicht zu nennen, wenn Meinungsfreiheit gilt, und sie gilt in Deutschland“. „Erbärmlich“, so. Na bitte, so schlimm ist das.

Und, was fehlt wohl? Richtig: Kinderpornographie. Anonyme Kommunikation schützt nämlich Kinderschänder. Und wer will das schon? Na? Das hätte Ursula von der Leyen auch nicht besser miteinander verknüpfen können.

Ach, wenn es denn wirklich so einfach wäre. Ich habe nicht genügend Vertrauen in die Integrität der deutschen Polizei und der Geheimdienste, um mich bei jeder Demonstration filmen zu lassen. Und schon gar nicht will ich jedes mal meinen Perso vorzeigen, wenn ich demonstriere. Obwohl es hier Meinungsfreiheit gibt, Gewaltenteilung und eine unabhängige Rechtsprechung. Aber es gibt auch historische Erfahrungen. Und die sind nicht lustig.

Das will doch keiner? Doch! Genau in diese Richtung geht es. Rein technisch gesehen kann im Internet jede, wirklich jede Lebensäußerung erfasst werden: Welche Bücher ich kaufe, welche Zeitungsartikel ich wie lange lese, welche Webseiten ich besuche, in welche Foren ich poste - mit anderen Worten: Was ich denke, was ich will, in gewissen Maße auch, was ich fühle. Und nach der Logik von Kurbjuweit müsste das auch passieren, weil im Internet täglich jede Menge Rechte verletzt werden.

Deswegen ist die Möglichkeit anonym im Internet zu kommunizieren, nicht nur eine Spielwiese für pubertierende Jungs, Kriminelle und ein paar Exil-Dissidenten, die Freiheitsbewegungen in ihren unterdrückten Ländern unterstützen. Sie ist eine Art Versicherungspolice gegen eine totale Kontrolle. Eine Kontrolle, die zwar jetzt politisch niemand will, die aber technisch jederzeit möglich ist.

In dem oben erwähnten Streitgespräch hat Christoph Lauer vergeblich versucht Jan Delay zu erklären, was eine „Deep Packet Inspection“ ist. Es ist höchste Zeit, dass Intellektuelle und Künstler in diesem Land lernen, was das bedeutet.

(wst)