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Millionen von Zuschauern kommentieren in sozialen Netzwerken regelmäßig Fernsehsendungen und Werbespots. Diese unstrukturierten Äußerungen ließen sich nutzen, um TV-Programme besser auf das Publikum zuzuschneiden.

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Lesezeit: 13 Min.
Von
  • David Talbot
Inhaltsverzeichnis

Millionen von Zuschauern kommentieren in sozialen Netzwerken regelmäßig Fernsehsendungen und Werbespots. Diese unstrukturierten Äußerungen ließen sich nutzen, um TV-Programme besser auf das Publikum zuzuschneiden.

Seit mehr als vier Jahrzehnten ist es der Job von David Poltrack, die Gewohnheiten und Vorlieben der Fernsehzuschauer zu messen. Meist bedeutete dies, Tabellen mit Umfrage-Ergebnissen und Einschaltquoten zu studieren. Neuerdings aber bekommt es der Marktforschungschef des US-Senders CBS zunehmend mit einer anderen Art von Daten zu tun: mit Bemerkungen, mit denen sich Zuschauer in sozialen Medien über das TV-Programm äußern. Von den etwa 300 Millionen Kommentaren, die weltweit jeden Tag ins Netz gestellt werden, beziehen sich ungefähr zehn Millionen auf das Fernsehen.

Wie lässt sich in diesen spontanen, ungeordneten und oft genug respektlosen Äußerungen ein Sinn entdecken? Poltrack greift sich einen Bericht des Start-ups Bluefin Labs vom Schreibtisch. Bluefin hat sich darauf spezialisiert, solche Kommentare zu sammeln und aus ihnen Rückschlüsse über die Interessen und demografischen Merkmale ihrer Urheber zu ziehen. Manche der Bluefin-Befunde erscheinen zunächst verwirrend: So verzeichnete der letzte Staffel-Auftakt der Serie "Two and a Half Men" in den USA genau 78347 Kommentare – weniger als "Dancing with the Stars" mit 82980 Beiträgen, obwohl diese Sendung weniger und ältere Zuschauer hat. Die Erklärung: Reality-Wettbewerbe wie die Tanzshow lösen grundsätzlich eine größere Reaktion in der Online-Welt aus.

Ein weiteres Rätsel für Poltrack: Warum verursacht eine wenig gesehene Sendung wie "Bad Girls Club" beachtliche 32665 Kommentare? Poltracks Mitarbeiter John Butler blättert sich durch die unbearbeitete Sammlung von Kommentaren. "Diese Schlampe Angie auf @Badgirlsclub trägt in jeder verdammten Folge dieselben Socken", lautete einer davon, "BGC, Dusche, Bett" ein weiterer. Es ist kaum zu verstehen, was das bedeuten soll.

Obwohl die Daten so chaotisch sind, hat Poltrack sie als Hilfsmittel achten gelernt. "Für Einmal-Messungen haben wir bessere Instrumente", sagt er und meint damit sorgfältig konstruierte Umfragen seines Senders. Doch während solche Erhebungen immer nur einen bestimmten Zeitpunkt beleuchten können, ermögliche die Analyse sozialer Medien "eine ständige Beobachtung der Diskussionen über ein Programm, Folge für Folge". Letztlich, sagt Poltrack, entscheide das Echo des Publikums – online wie offline – über Erfolg und Misserfolg von Sendungen. Und darüber, wohin die jährlich 72 Milliarden Dollar an TV-Werbeausgaben in den USA wandern.

Knapp tausend Kilometer weiter westlich, in seinem Hauptquartier in Cincinnati, beschäftigt sich auch Procter & Gamble mit Fernsehen und sozialen Medien. Der Konsumgüterriese ist mit Marken wie Gillette, Bounty, Pringles und Duracell der größte Werbetreibende der Welt und gibt jedes Jahr fünf Milliarden Dollar für seine Kampagnen aus – den Großteil davon im Fernsehen. Testweise hat Procter & Gamble einen bestimmten Werbespot in zwei Sendungen mit ähnlichen Zuschauerzahlen und ähnlicher Demografie platziert, erklärt Craig Wynett, Chief Learning Officer des Unternehmens. Dabei löste die eine Ausstrahlung achtmal so viele Reaktionen in den sozialen Medien aus wie die andere. Niemand weiß, warum. In der Vergangenheit habe man den Kontext immer außen vor gelassen. "Aber Überraschung! Der Kontext spielt eine entscheidende Rolle", sagt Wynett. Ob sich nun ein lebhaftes Echo im Netz tatsächlich in höheren Verkaufszahlen niederschlägt, wisse er auch nicht, gibt Wynett zu: "Die Forschung steht noch am Anfang. Aber sie ist vielversprechend."

Bluefin gehört zur wachsenden Zahl von Unternehmen, die sich mit der Auswertung von sozialen Medien beschäftigen. In den Augen von Bluefin-Mitgründer und Geschäftsführer Deb Roy sind sie einer grundlegenden Änderung im Verhältnis zwischen Medienproduzenten und -konsumenten auf der Spur: "Ich habe viel Zeit mit TV-Managern, Künstleragenturen und Kreativtypen verbracht. Dabei habe ich eines gelernt: Bei ihnen ist die Annahme tief verankert, dass es um eine Einweg-Kommunikation geht." In gewisser Hinsicht ist daraus nun ein Dialog geworden, der ein erstaunlich schnelles Feedback ermöglicht. In Zukunft könne ein Sender beispielsweise Charaktere stärker hervorheben, die bei den Zuschauern besonders gut ankommen – oder sogar mitten in einer Staffel noch die Handlung ändern. Werbetreibende wiederum könnten die Reaktionen in sozialen Medien nutzen, um gezielt Spots auszutauschen oder anders zu platzieren. Bei Online-Anzeigen geschieht so etwas Ähnliches bereits: Dort entscheiden Algorithmen in Echtzeit unter anderem anhand von Seitenaufrufen – den Page Impressions – über die Platzierung von Werbebannern.