Die Retter des Web-Kulturerbes

Dateien und Webseiten im Internet sind nur so lange sicher, wie der Webprovider existiert. Geht er pleite, löscht er die Inhalte ganz schnell. Es sei denn, das "Archive Team" erfährt davon und kann einen Rettungseinsatz starten.

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Von
  • Matt Schwartz
  • Eva Talmadge
Inhaltsverzeichnis

Dateien und Webseiten im Internet sind nur so lange sicher, wie der Webprovider existiert. Geht er pleite, löscht er die Inhalte ganz schnell. Es sei denn, das "Archive Team" erfährt davon und kann einen Rettungseinsatz starten.

Die Webseite Poetry.com war wohl nur eingefleischten Fans ein Begriff. Der Internetdienst mit rund 14 Millionen Gedichten online veröffentlichte für 60 Dollar Anthologien von aufstrebenden Dichtern und verdiente ein kleines Zubrot über Anzeigen. Für die Nutzer bedeutete Poetry.com aber weit mehr: Die Webseite war eine Art Schatzkiste für Andenken mit hohem emotionalen Wert. Keiner von ihnen hätte sich träumen lassen, dass sie eines Tages nicht mehr da sein könnte.

Als ihr Inhalt am 4. Mai 2011 nach einem Betreiberwechsel verschwand, hatten die sieben Millionen Nutzer zuvor gerade einmal drei Wochen Zeit gehabt, ihre hochgeladenen Werke zu sichern – nicht jeder schaffte es. Die meisten Nutzer glauben, dass ihre Daten im Internet für alle Zeiten gesichert sind. Sie vertrauen unsichtbaren Servern und unbekannten Systemadministratoren weit mehr als nur Lyrik an: Terabytes an vertraulichen Geschäftsdokumenten, E-Mail-Korrespondenzen und unersetzbaren Fotos befinden sich in der Cloud, jener namenlosen Wolke aus weltweit verteilten Serverkapazitäten, in der Internetdienste die Dokumente ihrer Kunden lagern. Wie anfällig diese Daten allerdings sind, welche Mengen davon Hackerangriffe bereits verschwinden ließen oder durch abrupte Schließungen verloren gingen, ist kaum bekannt. Doch nach 30 Jahren Internet dürften die Verluste gigantisch sein.

Ohne das vom New Yorker Jason Scott Sadofsky geleitete "Archive Team", einem lose organisierten und im ganzen Land verstreuten Trupp von digitalen Freibeutern, wären wohl auch die meisten Gedichte von Poetry.com verloren gewesen. Doch die etwa 25 Aktivisten opferten wie schon so oft ihre Freizeit und planten in einem Chatforum eine Rettungsaktion. Sie schrieben Programme, um so viele Gedichte wie möglich von der Webseite zu kopieren und sie in einem Netzwerk von Servern von London bis Ägypten zu sichern. Das Team fragt vor dem Entern dieser todgeweihten Webseiten nicht um Erlaubnis; es rettet aber auch nur öffentlich zugängliche Daten.

Warum sich aber die Mühe machen, größtenteils unbekannte Gedichte und andere Inhalte zu sichern, die nur bestimmten Individuen oder allenfalls Grüppchen wichtig sind? Sind solche Daten es überhaupt wert, gerettet zu werden? Für Zweifler hat der Gründer von Archive Team, der im Internet nur als "Jason Scott" auftritt, keinerlei Verständnis. Die große New York Public Library bewahre schließlich auch alte Restaurantkarten in ihrer Sammlung seltener Bücher auf. "Das stellt niemand infrage", grantelt der Datenretter. Wenn Webseiten-Betreiber Nutzern erst anböten, ihre Seiten zu hosten und dann plötzlich dichtmachten, dann sei das, "als ob jemand in das Bibliotheken-Geschäft einsteigt und dann beschließt, es ist doch nichts für ihn und den Laden niederbrennt". Dabei trage jede Seite das einmalige Handzeichen der Person, die sie entwickelt hat.

Es sind genau diese persönlichen Details, die das Archive Team zu retten versucht, Zeugnisse des alltäglichen Lebens, die für jemanden wichtig genug waren, um im Internet veröffentlicht zu werden. Von der "Petsburgh" getauften Unterseite von GeoCities – einst der Drittplatzierte in der Rangliste der meistbesuchten Webdienste – sicherte das Archive Team zum Beispiel eine digitale Erinnerungstafel, die einer für seinen Hund Woodro angelegt hatte. Auf der Tafel stand zu lesen, dass Woodro zu Lebzeiten ein Fan der Musik von Jimmy Buffett gewesen war und am 5. Januar 1998 "seinen Kampf gegen Lungenkrebs verloren" hatte. Für das Archive Team allemal ein Grund zum Eingreifen. Trotzdem gingen insgesamt 38 Millionen solcher selbst gestalteten Seiten verloren, als GeoCities von seinem Betreiber Yahoo 2009 wegen zu hoher Betriebskosten abgestellt wurde.

GeoCities ist vielleicht das beste Beispiel für Sadofskys Argument, dass auf den ersten Blick sentimentale, alberne oder belanglose Daten sehr wohl von kulturellem Wert sind. Das Archive Team machte das gerettete GeoCities-Material im Oktober 2010 per Filesharing in Form von 652 Gigabyte an sogenannten Torrents wieder der Allgemeinheit zugänglich. Torrents sind Wegweiser-Dateien, die zu den oft in mehreren Servern abgelegten Daten der Ursprungsdateien führen. Aus dem GeoCities-Torrent entstand "DeletedCity", ein beeindruckendes und gleichzeitig gespenstisches Video-Interface, mit dem Besucher verschiedene Abteilungen und Inhalte von GeoCities erforschen können. Das Archive Team förderte dabei auch Berührendes zutage, etwa das alte Foto-Archiv eines US-Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg. Man ließ es auf einem USB-Stick seiner Witwe zukommen. Und Phil Forget, ein 26 Jahre alter Programmierer aus New York, grub aus dem GeoCities-Torrent seine alten Bilder aus, die er als Kind vom japanischen Anime-Zeichentrickfilm "Dragonball Z" gezeichnet hatte. Er entdeckte auch Karikaturen über seine Highschool-Lehrer. "Es ist, als ob du im Haus deiner Eltern deinen alten Block aus der vierten Klasse mit all den Krakel-Zeichnungen wiederfindest. Plötzlich waren all diese Erinnerungen wieder da."