Kommentar: Neues Meldegesetz - Kalkül und Chaos

Aus der Regelung im neuen Meldegesetz, dass Bürger jeder Weitergabe der Meldedaten an Adresshändler oder Werber ausdrücklich zustimmen müssen, war über Nacht ein eingeschränktes Widerspruchsrecht geworden. Wer hats erfunden? Cui bono?

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Donnerstag vor zwei Wochen in Berlin. Der Halbfinalkick der deutschen Nationalmannschaft gegen Italien hatte gerade begonnen, als im Bundestag die Abstimmung über die inzwischen heftigst umstrittene Änderung des Melderechts anstand. Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau leitete um 20:51 zu Tagesordnungspunkt 21 über. Dann ging alles ganz schnell: Ohne Debatte kommt es zu zweiter und dritter Beratung. Die wenigen anwesenden Abgeordneten stimmen zweimal ab, Reden werden zu Protokoll gegeben. Das Gesetz ist durch.

Zwei Wochen später will es keiner gewesen sein. Die Bundesregierung geht auf Distanz zu ihrem eigenen Gesetz und spricht sich für eine Änderung der Änderung aus: Der Datenschutz im neuen Melderecht müsse wieder gestärkt werden, hofft Regierungssprecher Steffen Seibert. Dabei waren es die Regierungsparteien, die das eigentlich von allen mitgetragene neue Meldegesetz auf der Sitzung des Innenausschusses am Abend vor der Abstimmung im Bundestag entscheidend geändert hatten.

Aus der im Regierungsentwurf vorgesehenen Regelung, dass Bürger jeder Weitergabe ihrer Meldedaten an Adresshändler oder Werbung ausdrücklich zustimmen müssen, war über Nacht ein eingeschränktes Widerspruchsrecht geworden: Der Widerspruch soll wirkungslos bleiben, wenn die anfragende Partei damit bestehende Daten zur Person überprüfen will. Das Votum der Datenschützer: So ist das Widerspruchsrecht viel zu leicht auszuhebeln.

Die Koalition ist zuerst wohl ziemlich verdattert, dass ihr dieser Last-Minute-Coup plötzlich doch noch um die Ohren fliegt. Wer bei Schwarz-Gelb nachfragt, hört zunächst Beschwichtigungen: Alles nicht so schlimm, meint Hans-Peter Uhl, für die CSU im Innenausschuss und mit dem Vorgang bestens vertraut. "Hysterisch abstrakte Diskussion." Die Werbewirtschaft habe davon gar nichts, aber die Organisation von Ehemaligentreffen wird jetzt viel einfacher. "Alle, die sich jetzt besserwisserisch zu Wort melden, haben keine Ahnung von der Materie", kanzelt Uhl die Kritiker in der Bild ab.

Auch bei FDP heißt es, dass selbst das kastrierte Gesetz noch besser ist als die derzeitige Rechtslage in den meisten Bundesländern. Das stimmt auch. Der vom Kabinett ursprünglich vorgelegte Vorschlag wäre allerdings der ungleich größere Wurf gewesen. Da fällt es selbst den liberalen Spin-Meistern schwer, den Fortschritt hervorzuheben und die Bürgerrechtsklientel nicht wieder zu verprellen. Wirklich gute Gründe für die Änderungen hat die Koalition nicht.

Doch auch die Opposition macht keine gute Figur. Im besten Fall sieht es so aus, als habe sie sich von den schwarz-gelben Strategen über den Tisch ziehen lassen. Oder sie haben einfach lieber Fußball geguckt - eine Verbindung zwischen dem Halbfinalkracher gegen Italien und der spärlichen Anwesenheit im Parlament herzustellen hält ein SPD-MdB aber für eine "unglückliche Verzerrung".

SPD, Grüne und Linke wähnten das weitgehend unstrittige Meldegesetz in trockenen Tüchern, als die Tagesordnung für die fragliche Bundestagssitzung zwischen dem Fraktionen abgestimmt wurde. Man war sich einig, dass die Abstimmung nur noch Formsache war und die Reden zu Protokoll gegeben werden sollten, weshalb auch nicht die komplette Mannschaft an Deck sein musste.

Claudia Roth fehlte also entschuldigt und durfte das Halbfinale (Endstand: 1:2) gucken. Doch wenn Beobachter von einem "Tiefpunkt des Parlamentarismus" schreiben, hat der Politikbetrieb Schaden genommen. Der Linke Jan Korte beklagt, solche Hauruck-Aktionen seien nicht neu: "Diese Praxis bestimmt schon lange den Parlamentsalltag, sie hat System". Er hält es auch für möglich, dass einige Abgeordnete die kurzfristigen und "gut versteckten" Änderungen gar nicht mitbekommen haben. Das schließen SPD und Grüne allerdings aus und verweisen auf ihren Widerstand im Ausschuss und die Gegenstimmen im Parlament.

Beide beklagen aber auch das mangelnde Interesse der Medien, die den Coup im Ausschuss nur zögerlich aufgegriffen haben. Man kann Schwarz-Gelb da durchaus Kalkül unterstellen: Mit Fußball-Europameisterschaft und Euro-Rettungsschirm war die Ablenkung groß. So versenkt man Geschichten, wenn das Sommerloch noch nicht tief genug ist. Hat nicht geklappt. Bleibt die entscheidende Frage nach dem Grund dieser Änderungen, die die Koalition noch nicht beantwortet hat.

Bei der FDP zeigen sie mit spitzem Finger auf den Koalitionspartner CSU. Aber Parteichef Horst Seehofer und Verbraucherministerin Ilse Aigner (auch CSU) geben die Überrumpelten. Vielleicht weiß ja Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (ja, CSU) mehr. Sein Ministerium soll "Formulierungshilfe" geleistet haben und kann das vielleicht erklären. Cui bono? Das würde nicht nur Seehofer und Aigner interessieren. (vbr)