Die Augen der Welt

Durch eine Vielfalt neuartiger Sehhilfen werfen wir ganz neue Blicke in das globale Dorf.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Peter Glaser

Durch eine Vielfalt neuartiger Sehhilfen werfen wir ganz neue Blicke in das globale Dorf.

Manchmal beginnt der Fortschritt an Orten, die der Vergangenheit gehören. So bietet das Museum aan de Stroom im belgischen Antwerpen eine Weltneuheit: Hier kann man über das Web eine "phygitale Tour" buchen (zusammengesetzt aus den Begriffen "physisch"und "digital"). Dabei verabredet man sich mit einem real in dem Gebäude anwesenden Guide, der mit einer Videokamera ausgerüstet ist und kann ihn danach zwei Minuten lang durch einen individuell ausgewählten Teil der vielfältigen Sammlung lenken.

Die Zugänge zu den Schätzen der Menschheit öffnen sich im globalen Dorf – und dahinter stehen nun auch im Netz, erfreulich, wieder richtige Menschen, nicht bloß algorithmisch kuratierte JPEG-Dateien. Und es sollen noch viel mehr werden – Abermillionen. Wir alle sollen nun endlich Max Headrooms werden, stets sendebereite Video Jockeys. Die Augen der Welt. Als die Leute von Google neulich Google Glass an die Öffentlichkeit brachten – das Konzept einer Brille mit Head-up-Display, mit der sich neue Realitätsebenen ins Blickfeld schichten lassen –, erinnerte ich mich an einen Gedanken, den ich 1999 vor einem Saal voller Internet-Anzugmenschen so ausgeführt hatte:

"Was wird passieren, wenn wir Bandbreite zum Schweinefüttern haben und sich das Netz drahtlos in die Straßen und Gassen der Welt hinein ausbreitet? Stellen Sie sich eine Weltkarte auf ihrem Computerbildschirm vor – oder am Fernseher. Über die ganze Welt verstreut sehen sie grüne, rote und blaue Punkte auf der Karte. Jeder grüne Punkt bedeutet: Da ist jemand mit einer Brille, in die eine kleine drahtlose Kamera eingebaut ist, die ihren Videostream ins Netz speist. Und wenn Sie möchten, können sie bei ihm mit durch die Brille sehen.

Sie liegen auf ihrem Sofa und gehen in der South Bronx spazieren. Sie können als Gegengeschäft einen Abend bei sich zu Hause anbieten. Jeder gelbe Punkt auf der Karte bedeutet: Hier können sie nicht nur mitschauen, sondern auch Fragen stellen. Die roten Punkte auf der Karte sind Ereignisse. Es ist die Demokratisierung von CNN – jeder ist ein Reporter, der gerade zufällig dabei ist, wenn etwas passiert. Wenn nicht kleine Jungs sofort damit Unfug treiben würden, könnte man sich auch vorstellen, fahrbare oder fliegende Drohnen zu mieten, auf denen Kameraaugen montiert sind. Die Nachrichten kommen nicht mehr zu uns wie bei der Tagesschau, sondern wir suchen die Nachrichten auf."

Das, was in Antwerpen geboten wird, ist also bereits der nächste Schritt. Denn so wahnsinnig innovativ ist das nicht, was sie da bei Google konzipieren. Sie könnten ein solches Produkt plus Service aber sehr schnell weltweit auf den Markt bringen und massentauglich machen – Google ist heutzutage für Zauberei zuständig, das heißt, für die Umsetzung von Wünschen in Echtzeit.

Museen im Netz glänzen im Übrigen nicht nur mit Schätzen der Vergangenheit. Viele der großen Sammelstätten der Menschheitskultur sind inzwischen mit spektakulären Online-Angeboten vertreten. So lassen sich Teile der Museumsinsel in Berlin in einem eindrucksvollen Architektur-Rundgang am Bildschirm durch Panoramaansichten der Räumlichkeiten hindurch frei begehen und der Architekt David Chipperfield interaktiv befragen. Beachtlich auch die Augenweiden des Smithsonian National Museum of Natural History in Washington. Das British Museum hält gleichfalls ein Füllhorn an Online-Touren durch seine Sammlungen bereit, die die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit umfassen; desgleichen der Louvre in Paris.

Von dem Vortrag mit der Brille und den bunten Punkten erinnere ich übrigens noch etwas. Ich erwähnte die unglaubliche technologische Dynamik, von der damals die ganze westliche Zivilisation erfasst worden war – der Dotcom-Boom war auf seinem Höhepunkt – und dass aber in Wirklichkeit niemand wisse, was man mit Computern und dem Internet eigentlich anfangen solle: "Das Dumme ist: Es ist zu spät, das zuzugeben. Der Zug ist abgefahren. Das Internet muss die Welt retten." Aber niemand hat gelacht. Komisch. (bsc)