TV-Marktschreier im Visier

Die Europäische Rundfunkunion (EBU) will mit einer Richtlinie extreme Lautstärkesprünge in Radio und TV in den Griff bekommen. Laute Werbung, aber auch starke Pegelunterschiede beim Hin- und Herschalten zwischen verschiedenen Sendern sollen damit endlich der Vergangenheit angehören.

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Von
  • Florian Scholz

Großes Kino, große Gefühle – und schlagartig die Werbung, die brüllend die ganze Atmosphäre ruiniert. Die "Verbraucherinformationen" sind für viele Zuschauer das größte Ärgernis beim Fernsehgucken. Das Kuriose dabei: Rein technisch betrachtet hat die Werbung oft gar keinen höheren Spitzenwert als das restliche Programm. Vielmehr wurden ihre lautesten Stellen auf den gleichen Pegelwert gesetzt wie die lautesten Stellen der Sendung, in der geworben wird. Sehr unterschiedlich ist allerdings die "Dichte" des Tonsignals, der sogenannte "Kompressionsgrad". Als Ergebnis der heftig übertriebenen Kompression wird in den kurzen Spots der Pegelspitzenwert viel öfter erreicht als im restlichen Programm (auf quasi permanent hohem Niveau). Der technische Spitzenwert ist also gleich, der tatsächlich empfundene Wert aber höher. Im Englischen spricht man hier von Loudness, was meist mit "Lautheit" übersetzt wird.

Hinter dem Kampf um die Aufmerksamkeit des Zuschauers steckt System: Für den Menschen klingen lautere Signale besser als leise – auch wenn sie ansonsten identisch sind. Ein Spot soll also nicht nur visuell reizen, sondern auch gut klingen. Zudem verspricht sich mancher Werbetreibende mehr Gehör – eigentlich mehr Aufmerksamkeit – beim potenziellen Kunden. Um das gewünschte Resultat zu erreichen, werden die Werbespots wie zuvor angesprochen klanglich verdichtet. Hierbei hebt man die Pegel der leiseren Stellen zunächst an und senkt die der lautesten Stellen leicht ab. Danach erhöht man den Pegel des gesamten Spots so weit, bis die lautesten Stellen am zulässigen technischen Maximum angekommen sind. So erscheint der Werbespot deutlich lauter als zuvor – allerdings auf Kosten der Dynamik, die den Unterschied zwischen der lautesten und leisesten Stelle im Audiomaterial bezeichnet. Da die massiven Eingriffe in die Dynamik technisch sehr dicht an eine Übersteuerung reichen, ist es nicht verwunderlich, wenn Werbung auch akustisch nervt.

Die Pegelspitzen des Films sind genau so hoch wie die des Werbeblocks; dennoch erscheint letzterer lauter.

Um solche Pegelsprünge langfristig in den Griff zu bekommen, hat die Europäische Rundfunkunion (EBU) unter Leitung des ORF-Tonmeisters Florian Camerer die Richtlinie R 128 erarbeitet. Ziel ist es, Programmelemente in ihrer Lautheit einander anzupassen. Einen richtigen Nutzen hätte diese Richtlinie allerdings erst, wenn sich alle Sender daran beteiligen. Nun gehören zwar unter anderem ARD, ZDF, ORF und das Schweizer Fernsehen der EBU an, nicht aber ProSiebenSat.1 und die RTL-Gruppe. Erste Gespräche mit diesen Betreibern verliefen laut Camerer aber vielversprechend. Loudness-Normalisierung sei ein Service am Kunden, der ja schon jahrzehntelang unter den Pegelsprüngen leidet. Oder anders ausgedrückt: Viele Zuschauer dürften mittlerweile reflexartig zur Fernbedienung greifen, wenn die Werbung lospoltert und den Ton einfach ganz ausstellen oder das Programm kurzzeitig wechseln. Die Initiatoren hoffen, dass mit der Umsetzung der Richtlinie bei den ersten Sendern der Druck auf die Programmanbieter groß genug wird, um ein allgemeines Umdenken zu erreichen.

Neue Messlatte

Für den Erfolg der Richtlinie ist es wichtig, dass sie sich auch Menschen ohne umfassende Ausbildung im tontechnischen Bereich erschließt, da am Herstellungsprozess viele fachfremde Berufsgruppen – wie Reporter, Redakteure und Regisseure – beteiligt sind. R 128 verzichtet daher auf die für manche Nicht-Techniker eventuell abschreckend wirkende Maßeinheit Dezibel, sondern verwendet den eigenen Begriff "Loudness Unit" (LU) beziehungsweise "Loudness Units, bezogenauf digitale Vollaussteuerung" (LUFS). Gemessen wird zudem nicht das frequenz lineare Signal, wie das bei (Studio-)Pegelmessungen bisher Usus ist, sondern mit einem vorgeschalteten Filter, der annähernd die Empfindlichkeit des Gehörs nachbilden soll. Schon in den 1930er-Jahren war erforscht worden, bei welchen Frequenzen der Mensch in Abhängigkeit von der Abhörlautstärke wie empfindlich ist. Dabei stellte sich heraus, dass der Mensch vor allem bei tiefen Frequenzen wesentlich unempfindlicher ist als im Bereich der Sprachverständlichkeit (ca. 2 bis 5 kHz).

Teilweise wird das Klangmaterial so weit verdichtet, dass auch im Editor deutlich eine Verzerrung (Abschneiden der Wellenform am oberen Ende) zu erkennen ist.

Um auch kurzfristige Pegelmaxima wie Transienten (sehr schnelle, impulsartige Klangereignisse) oder große Pegelunterschiede ohne Reduktion der Dynamik zu ermöglichen, wurde ein deutlicher "Sicherheitsabstand" zur Maximalaussteuerung gelassen. Als Zentrum des dadurch entstehenden Arbeitsbereiches setzte man die 0-LULinie bei 23 dB unter Vollaussteuerung (–23 LUFS). Das bedeutet aber nicht, dass alle angelieferten Programminhalte an dieser Marke kleben sollen, sondern dass sich die Pegel um dieses Zentrum bewegen sollten – abhängig von ästhetischen und gestalterischen Kriterien. Als Toleranz wurde mit ± 1 LU ein enger Spielraum gewählt, um ei nem neuen Loudness War vorzubeugen. Da der Zielwert von 0 LU relativ (= –23 LUFS) die Durchhörbarkeit des gesamten Programms und die verschiedener Sender verbessern soll (sodass man unbesorgt umschalten kann), muss man dieses auch in seiner Gesamtheit betrachten. Live-Übertragungen werden damit zu einer gewissen Herausforderung, erste praktische Erfahrungen zeigen laut Camerer aber, dass es gar nicht so schwierig ist, auch bei Live-Sendungen innerhalb der Toleranz zu bleiben.

Wer die neue Aussteuerungsrichtlinie anwenden möchte, braucht einen speziellen Pegelmesser, da nicht nur die frequenzspezifische Gewichtung zu beachten ist, sondern auch die verwendete Ansprechzeit des Messinstruments. Hier sind drei Werte vorgesehen: 400 ms (Momentary), 3 Sekunden (Short Term) sowie Integrated (über den kompletten Zeitraum der Sendung, wozu auch ein einzelner Werbespot zählt). Maßgebend ist vor allem der Integrated-Wert, die anderen beiden dienen zur momentanen Einschätzung. Im Ergebnis dürfte die Werbung weiterhin nicht so seicht daherkommen wie das Traumschiff, man wird also weiter gewisse Lautstärkeunterschiede zwischen beiden Programmelementen haben. Bei einer konsequenten Umsetzung der Richtlinie wird aber das leidige Problem der überproportionalen Sprünge aus der Welt geschafft.

Das NDR-Fernsehen arbeitet bereits seit 2010 nach dieser Norm (allerdings vorerst bei –21 LUFS, dem bisherigen durchschnittlichen Wert im NDR), ab dem 1. Januar 2012 wollen ARD, ZDF und der öffentlich-rechtliche Österreichische Rundfunk (ORF) komplett umsteigen. Dass auch Privatsender starkes Interesse an R 128 haben können, zeigt die Fox-Senderkette in Italien, die seit drei Jahren normalisiert sendet und sukzessive auf die neue Richtlinie umstellt. Die Gruppe berichtet von gesteigerten Werbeeinnahmen durch mehr Kundenzufriedenheit, da das Programmangebot allgemein wesentlich besser durchhörbar und konsistent sei. In Frankreich ist eine gesetzliche Regelung angekündigt, nach der Kurzinhalte wie Werbung und Trailer bereits ab dem 1. Januar 2012 voll R-128- kompatibel sein müssen und die restlichen Programminhalte diesen Status bis Ende 2012 zu erreichen haben. In Holland wird Werbung beim Privatsender SBS bereits seit September komplett auf –23 LUFS produziert. (nij) (nij)