Verriss des Monats: Gummibärchen auf dem Chip

Warum haben sich Ziegelsteine bisher nicht als Nahrungsmittel durchgesetzt? Weil ihr Vitamingehalt zu gering ist. Und warum haben sich funktionslose Scheckkarten nicht längst als ideales Mittel zum Abnehmen etabliert? Weil sie nicht das Gewicht reduzieren, sondern den Verstand.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 11 Kommentare lesen
Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Peter Glaser

Warum haben sich Ziegelsteine bisher nicht als Nahrungsmittel durchgesetzt? Weil ihr Vitamingehalt zu gering ist. Und warum haben sich funktionslose Scheckkarten nicht längst als ideales Mittel zum Abnehmen etabliert? Weil sie nicht das Gewicht reduzieren, sondern den Verstand.

Die Kunst des gepflegten Verreißens zweifelhafter Produkte ist ein wenig aus der Mode gekommen. An dieser Stelle präsentiert unser Kolumnist Peter Glaser einmal im Monat deshalb eine Rezension der etwas anderen Art: den Verriss des Monats. Vorschläge für besonders zu würdigende Produkte werden gerne per Mail entgegengenommen.

Das Tragische an der Aufklärung ist, dass die Verrückten immer die attraktiveren Geschichten haben. Was beispielsweise Archäologen und Ägyptologen in den letzten 200 Jahren durch fleißiges Graben, Denken, Messen und Belegen an Einsichten über den Bau der Pyramiden zutage gefördert haben – nämlich, dass jeweils etwa 10.000 Mann in 20 bis 25 Jahren durch Planung und Muskelkraft ein solches Bauwerk errichtet haben, damit ihr Pharao durch die Ewigkeit reisen konnte – wirkt nüchtern und unspektakulär neben der Ansicht, bei den Pyramiden handle es sich um Landemarkierungen für die rosarote Ufo-Flotte des Ashtar Galactic Command. Oder um die Kornkammern Josephs. Oder um ein Wasserkraftwerk: "Wer das Quatsch der Offiziellen Versionen glauben mag soll das tun", kommentiert User TheStoneWhiteMan in linkischer Diktion einen Filmbeitrag zu der ungewöhnlichen Theorie. "In der Archäologie wurde viel gelogen um sich als Helden zu Präsentieren. Irgendwann wird mal die Wirklichkeit ans Tageslicht kommen." Die Sprache ist ebenso schlampig wie die hingesagte Besserwisserei.

Flinders Petrie, ein Pionier der wissenschaftlichen Ägyptologie, war 1880 in der Absicht nach Ägypten gereist, die Theorien des schottischen Astronomen Charles Piazzi Smyth unter Beweis zu stellen, denen zufolge das Grundmaß beim Bau der Großen Pyramide ein sogenannter "Pyramidenzoll" gewesen sei, mit dem bemerkenswerterweise das britische Zoll übereinstimmte. Dadurch ließen sich die britischen Maßeinheiten auf ein quasi gottgewolltes Fundament stellen – und als Argument gegen die Einführung des Meters im anglo-amerikanischen Raum nutzen, die damals gerade im Schwange war. Mit seinen sehr genauen Vermessungen erkannte Petrie jedoch, dass die Theorie verworfen werden musste. (Einige der attraktiven Geschichten von Smyth, etwa dass die Länge der Pyramiden-Grundinie geteilt durch den Pyramidenzoll die Anzahl der Tage eines Jahres ergibt, kursieren noch heute als vermeintliche Tatsachen.) An einer Stelle im Gangsystem der Pyramide befindet sich ein steinerner Vorsprung, von dem unbeirrbare Anhänger der Smyth'schen Ideen behaupteten, dass es sich um eine Art Pyramidenzoll-Urmeter handle. In Wahrheit war der Vorsprung etwas länger als der angenommene Pyramidenzoll, und eines Nachts überraschte Petrie einen Mann, der gerade dabei war, das Steinstück auf die passende Länge zu meißeln.

"Es ist nutzlos, auf die wahren Sachverhalte hinzuweisen", schrieb Petrie später in seiner Autobiografie, "denn das hat auf Menschen, die dieser Art des Halluzinierens anheimgefallen sind, keine Wirkung. Sie gehören, so wie diejenigen, die früher einmal geglaubt haben, dass die Erde eine Scheibe ist, zu den Menschen, denen an einer Theorie mehr gelegen ist als an Fakten". Gibt es also zwei grundlegend voneinander unterschiedene Arten von Menschen, nämlich diejenigen, die etwas wissen möchten und diejenigen, die etwas glauben wollen? Ja. Und es gibt noch eine dritte Gattung, nämlich die Geschäftemacher, die denen, die sich mit dem Glauben zufriedengeben, Dinge anzudrehen versuchen, die so dämlich sind, dass es eigentlich wehtun müsste.

Neulich bin ich auf einige Produkte gestoßen, die ein deutscher Prof. h.c. (RO) anzubieten hat, als erstes über einen sogenannten ZES-Chip (ZES steht für "Zelluläre Elektromagnetische Systemsteuerung"). In Ratgeber-Communities wie gutefrage.net werden dazu Erfahrungsberichte vorgestellt: "ich hab heute ein paar versuche gemacht mit seinem chip ... z.b. hab ich zwei gleiche gummi-bärchen genommen. eins hab ich auf den chip gelegt und das andere nicht. und da war ein unterschied!!!!"

Menschen, die etwas unhinterfragt glauben wollen, wollen als erstes beeindruckt werden ("!!!!"). Klassische Hilfsmittel hierbei sind klingende Titel, gern auch eindrucksvolle Patente für naturwissenschaftlichen Nonsens und, paradoxerweise vor allem wenn es laut oder leise gegen die "Schulwissenschaft" geht, pseudowissenschaftliches Namedropping und Blabla. Textprobe: "Biologische INFORMATIONEN werden mittels ultraschwacher elektromagnetischer Felder übertragen, die durch sog. Potentialwirbel (diese sind ein Bestandteil von Elektrosmog) gestört werden können. Die ZES®-CHIP arbeiten mit diesen Potentialwirbeln, indem sie diese in ihrem Umfeld absorbieren und somit die negative Beeinflussung der Zellkommunikation abwehren. Eine positive Begleiterscheinung ist, dass auch die von biologischen Zellen ausgesendeten Informationen absorbiert werden."

Der Hersteller des Geräts hat ein Patent auf eine "Vorrichtung und ein Verfahren zur Minimierung elektromagnetischer Emissionen technischer Emittenten" angemeldet, welche "benötigt [werden], um die Potentialwirbelanteile elekromagnetischer Wechselfelder aus technischen Geräten zu minimieren". Dr. Gerhard W. Bruhn von der technischen Universität Darmstadt hat die mathematisch-physikalischen Hintergründe zerpflückt, auf denen der ZES-Chip angeblich basiert, darunter bloß behauptete Phänomene ohne den geringsten experimentellen Befund ("Die Entdeckung würde sicher mit einem Nobelpreis belohnt werden").

Schon die Bezeichnung "Chip" ist anmaßend. Es handelt sich um einen Halsketten-Anhänger respektive um Wohnzimmerdeko. Das österreichische Vital-Gesundheitsnetzwerk zitiert den Hersteller, was die Anwendung als auch die wunderbaren Wirkungen des "ZES-Chips" betrifft: "Der ZES-Chip hat eine Seite mit einer Spirale und eine mit Widerständen. Die Spirale ist jene Seite, die zum Körper oder bei Erdstrahlenharmonisierung nach unten Richtung Erde gerichtet werden muss. Funktion: Die Antenne (Spirale) saugt wie ein Staubsauger alle ultraschwachen Magnetfelder in einem Winkel von 45 – 60 Grad an und verwandelt die angesaugte Energie in harmlose warme Luft."

Bei apomio, einem Preisvergleichportal für Medikamente (!) ist der "ZES Körperchip, rezeptfrei" ab 169 Euro zu haben – die Saugwirkung des Geräts erstreckt sich also auch auf Brieftaschen.

Damit nicht genug, wird die ZES-Technologie inzwischen auch gegen andere Zivilisationskrankheiten wie Nikotinsucht und Übergewicht zum Einsatz gebracht. Hierfür gibt es gewissermaßen als Rohling die kreditkartengroße ZES®-ID-CARD (49 Euro). Als erstes muss sie mit jeweils einem Tröpfchen Blut und Spucke personalisiert werden ("Ihre unverwechselbaren persönlichen Daten: Ihre DNA"). Anschließend wird die Funktion der Karte festgelegt – soll es eine SLIM-CARD zum Abnehmen werden oder eine NO SMOKING-CARD?

Das geht erstaunlich einfach: Auf der Rückseite der bespuckten Karte befinden sich zwei Beschriftungsfelder. "In das obere müssen Sie handschriftlich (nicht in Druckbuchstaben!) schreiben: "Ich nehme ab" bei der SLIM-CARD oder "Ich rauche nicht mehr" bei der NO SMOKING-CARD. In dem unteren Schriftfeld unterschreiben Sie mit Ihrem Namen in der Art und Weise, wie Sie normalerweise unterschreiben (also auch hier keine Druckbuchstaben, sondern mit Ihrer handschriftlichen Signatur). Unter beiden Schriftfeldern befinden sich wiederum sog. Einleiterstrukturen, die das jeweilige Schriftfeld mit einem Speicher (spezieller Kondensator-Chip) verbinden. Sie wissen nun schon, was passiert."

Ja. Alle lachen. Ok, nicht alle, aber die meisten.

Bonus-Zitat: Immanuel Kant 1784 auf die Frage "Was ist Aufklärung?". ()