Frisch vom Dach

Gemüsebeete in Hochhäusern, auf Dächern und in Baubrachen sollen die Nahrungsmittelproduktion vom Land in die Städte verlagern. Kann die Vision vom "Urban Farming" wirklich die Bewohner der Metropolen ernähren?

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Von
  • Niels Boeing

Gemüsebeete in Hochhäusern, auf Dächern und in Baubrachen sollen die Nahrungsmittelproduktion vom Land in die Städte verlagern. Kann die Vision vom "Urban Farming" wirklich die Bewohner der Metropolen ernähren?

Es ist ein reichhaltiges vegetarisches Buffet, das da im Angesicht riesiger Graffiti an einer alten Backsteinfabrik heranwächst: Kartoffelsorten mit so seltsamen Namen wie "Bamberger Hörnchen" oder "Rote Emaille", dazu Porree, Grünkohl, Bohnen, diverse Salate und verschiedene Kräuter. Noch sind es kleine Setzlinge, die sich aus humusgefüllten Brotkisten und Reissäcken recken. Doch wenn das Wetter mitspielt, kann in der Großen Freiheit auf St. Pauli schon bald geerntet werden.

Stadtbewohner, die sich selbst ihr Essen heranziehen – was wie die Szene aus einem Endzeitfilm klingt, ist die neueste Errungenschaft des Hamburger Rotlichtviertels: Auf einem verwaisten Parkdeck neben dem Club Indra, in dem vor 50 Jahren die Beatles rockten, bauen seit vergangenem Jahr Anwohner Gemüse an. Das "Gartendeck" ist mitnichten eine speziell hanseatische Kuriosität. Gemeinsam mit ähnlichen Projekten kündigt es die Rückkehr der Landwirtschaft in die Großstadt an. Derzeit sind es vor allem Nachbarschaftsgärten, die medienwirksam innerstädtische Brachen besetzen und Städtern die Freude am Schaufeln, Pflanzen und Jäten nahebringen. Doch diese dürften nur die Vorhut sein: Agrarforscher und Ingenieure arbeiten bereits an ausgefeilten Konzepten für ein "Urban Farming", mit dem sie in einigen Jahren mitten in der Stadt Gemüse und sogar Getreide im großen Stil anbauen wollen.

"Die Landwirtschaft ist für mehr Schäden an Ökosystemen verantwortlich als jede andere Art der Umweltverschmutzung", sagt Dickson Despommier. Der New Yorker Mikrobiologe und Gesundheitswissenschaftler ist der vehementeste Verfechter des Urban Farming. "Wenn wir die Bauernhöfe in die Städte verlegen, können wir eine ansehnliche Menge Ackerland in eine Naturlandschaft zurückverwandeln."

Despommier will dafür nicht etwa ganze Stadtviertel abreißen lassen. Ihm schwebt etwas anderes vor: Landwirtschaft in und auf Gebäuden zu betreiben – im Idealfall in einer "vertikalen Farm". In ihr werden gewissermaßen Gewächshäuser auf vielen Etagen übereinander gestapelt. Aus einem Hektar Boden könnte man so das Zehn- oder Zwanzigfache an Anbaufläche gewinnen – und das ganze Jahr über pflanzen und ernten. Denn: "Im Innern von Gebäuden gibt es keine Jahreszeiten", schwärmt Despommier.

Die Ersten, bei denen Despommiers Begeisterung einen Nerv traf, waren Architekten. In teils spektakulären Konzeptstudien haben sie in den vergangenen Jahren Farm-Hochhäuser skizziert, die sich bis zu 30 Stockwerke hoch in den Himmel schrauben. Grün wuchert es da hinter den Glasfassaden vor einem immer blauen Himmel wie in den kühnsten Visionen der technikverliebten fünfziger Jahre.

Es gab auch ernst gemeinte Entwürfe wie den "Tour Vivante" des Pariser Architektenbüros SOA von 2005. Ein 3,5 Kilometer langes Gewächshaus windet sich in dem Hochhaus in einer langen, spiralförmigen Etage 112 Meter in die Höhe, vorbei an Wohnungen und Büros. Auf 7000 Quadratmetern Anbaufläche könnten pro Jahr 63 Tonnen Tomaten, 37 Tonnen Salat und 9 Tonnen Erdbeeren geerntet werden, haben die Architekten ausgerechnet. Die wären allerdings teuer erkauft: Die Baukosten bezifferte SOA auf 98 Millionen Euro.

Joachim Sauerborn, Agrarwissenschaftler an der Universität Hohenheim, stört an den bisherigen Entwürfen vertikaler Farmen nicht nur die futuristische Geste. Er vermisst auch eine realistische Planung, wie die Pflanzen angebaut werden sollen. Das bedeutet nicht, dass er sich für die Grundidee nicht erwärmen kann. Wichtig ist ihm nur, dass von der Pflanze zum Haus geplant wird – und nicht umgekehrt.

Denn mit Despommier und anderen Fachleuten teilt Sauerborn die Einschätzung, dass die "Grüne Revolution" in der Landwirtschaft allmählich an ihre Grenzen stößt. Die konnte seit Ende der fünfziger Jahre dank neu gezüchteter Turbo-Pflanzensorten, der Erschließung immer neuer Ackerflächen sowie Kunstdünger und Pestiziden die weltweiten Erträge enorm steigern. Rein rechnerisch kann sie auf diese Weise sieben Milliarden Menschen mit Nahrung versorgen – 4,5 Milliarden mehr als 1950. Auf den ersten Blick ist dies eine Leistung, die in der Geschichte ihresgleichen sucht. Schaut man genauer hin, ist die Lage nicht mehr so rosig.

Gut zwei Drittel des Trinkwassers werden weltweit für die Bewässerung von Feldern verbraucht. Durch die intensive Bewirtschaftung sind viele Böden zunehmend versalzen und mit Pestiziden belastet. Bei Dürren und Hitzewellen geht immer mehr ausgelaugtes Ackerland unwiederbringlich verloren, oder es wird von Überschwemmungen weggespült. Einige Experten sprechen in Analogie zum "Peak Oil", dem Überschreiten des Ölfördermaximums, bereits von "Peak Soil". Dabei bräuchten wir zusätzliche Äcker von der Fläche Brasiliens, um die für 2050 von der UNO prognostizierten 9,5 Milliarden Menschen ernähren zu können, warnt Despommier.

Hinzu kommen zwei weitere große Probleme: Nach Schätzungen des US-Landwirtschaftsministeriums fallen weltweit 70 Prozent der angebauten Pflanzen schon vor der Ernte Schädlingen zum Opfer. Selbst in den USA geht so immer noch die Hälfte des Anbaus verloren. Außerdem trägt die Landwirtschaft zum Klimawandel bei. Indirekt, indem für neue Ackerflächen tropische Wälder abgeholzt werden, die dann als CO2-Senken fehlen. Direkt, indem sie selbst Treibhausgase emittiert, allen voran Methan, das rund 25-mal treibhauswirksamer als CO2 ist und von Bodenbakterien freigesetzt wird.

Besonders heikel ist dabei Reis, Grundnahrungsmittel für Milliarden Menschen. "Nach Schätzungen gehen bis zu 20 Prozent der weltweiten Methan-Emissionen auf das Konto des Reisanbaus", sagt Joachim Sauerborn. Mehr noch: Reisanbau verbraucht ein Viertel der weltweiten Trinkwasserressourcen und – mit 159 Millionen Hektar – gut ein Fünftel des weltweiten Ackerlands. Bis 2025 könnten jedoch bis zu 25 Millionen Hektar vor allem aufgrund von Wasserknappheit wegfallen – obwohl der Bedarf an Reis zunehmen wird.

Deshalb entwickelt Sauerborn mit seiner Gruppe eine "vertikale Reisfarm". In dem Gebäude würden die Reispflanzen mittels der sogenannten Aeroponik gezogen. Das Verfahren fand erstmals 1983 kommerzielle Verwendung. Die Setzlinge werden dabei nicht in Erde gesteckt, sondern in die Löcher einer Membran oder eines Netzes. Die nach unten hängenden Wurzeln werden dann dauerhaft mit einem feinen Nebel einer Nährlösung besprüht. Aus ihm nehmen sie alle wichtigen Stoffe wie Stickstoff, Phosphor und Mineralien auf. Fängt man das Wasser auf, das die Pflanzen durch ihre Blätter verdunsten, ist ein fast geschlossener Wasserkreislauf möglich. "Mit rund zehn Litern Wasser ließe sich so ein Kilogramm Reis produzieren", sagt Sauerborn. Im traditionellen Anbau sind 600 bis 900 Liter nötig. Ein weiterer Vorteil: Die aeroponischen Kulturen enthalten keine Bakterien, die Methan freisetzen.

Um den Pflanzen während ihrer viermonatigen Reifung immer optimale Bedingungen zu bieten, sollen sich die aeroponischen Plattformen auf einem Fließband von einer Seite des Gebäudes zur anderen bewegen lassen. Je nach Wachstumsstadium können so Licht, Temperatur und Feuchtigkeit unterschiedlich eingestellt werden. Der Reis wächst kontinuierlich, unabhängig von den Jahreszeiten. Drei Ernten im Jahr wären damit möglich.

Wie groß sie ausfallen, hängt entscheidend von der Lichtmenge ab. Den höchsten Lichteinfall gibt es in wolkenlosen Gebieten in Äquatornähe, weshalb ägyptische Reisbauern mit durchschnittlich acht Tonnen pro Hektar weltweit am meisten ernten. Theoretisch wären sogar 16 Tonnen pro Hektar möglich, schätzen Forscher. Gelingt es, diese Menge mit einer ausgeklügelten technischen Beleuchtung im Reisturm zu erzeugen, ließen sich auf 20 Stockwerken mit einer Fläche von einem Hektar jährlich 900 Tonnen Reis ernten – 200-mal mehr als der Durchschnitt im traditionellen Reisanbau. Um Schädlinge abzuwehren, wäre die Reisfarm zudem hermetisch abgeschlossen. Personal könnte sie nur über Luftschleusen und in Spezialkleidung betreten, das Saatgut würde zudem vor dem Pflanzen auf Erreger untersucht.

Noch ist die vertikale Reisfarm als Ganzes nur ein Konzept. Ein erstes maßstabsgetreues Modell des Gebäudes mit den beweglichen aeroponischen Plattformen haben die Hohenheimer Agrarforscher vor Kurzem immerhin vorgestellt. Sauerborn rechnet aber nicht vor 2025 mit einer Reisernte im Hochhaus. Eine vertikale Farm für Gemüse – wenn auch ohne Fließbandverkehr durch alle Etagen – könnte schneller Wirklichkeit werden: Im niederländischen Den Bosch betreiben die Gartenbau-Experten von PlantLab bereits mehrere funktionierende "Pflanzkammern" in einem Gebäude. Die Pflanzen werden hier nicht nur mithilfe von Aeroponik, sondern auch von Hydroponik gezogen. Heimgärtner kennen die Methode aus Blumentöpfen, die statt mit Erde mit Tonkügelchen gefüllt sind. Der moderne Gartenbau nutzt Mineralwolle, die der Pflanze Halt, aber keine Nährstoffe gibt – diese werden dem Wasser beigemischt.

Wie Pflanzen aus einer fremden Welt sehen die Salatköpfe aus, die dort in niedrigen Räumen unter roten und blauen LED-Reihen heranwachsen. Unter diesen Wellenlängen arbeitet die Photosynthese am effektivsten.

Zehn Jahre lang vermaßen Gertjan Meeuws und seine Kollegen das Wachstum von diversen Gemüsen mit Sensoren. Aus den Datenbergen, die dabei anfielen, entwickelten sie schließlich ein mathematisches Modell, welche Kombination aus Feuchtigkeit, Temperatur, Lichteinfall und Nährstoffen einen Kohl oder eine Zucchini am besten gedeihen lässt: "Plant OS", ein Betriebssystem für den Hightech-Anbau in den Pflanzkammern. Für jede Gemüseart gibt es ein eigenes "Wachstumsrezept", wie Meeuws es nennt.

Ein Server empfängt permanent Messwerte von den Sensoren der Pflanzkammern und sendet Steuerdaten an deren Maschinerie, um die künstliche Umwelt, wenn nötig, feuchter oder trockener, kälter oder wärmer zu machen. "In unserem System braucht man keinen traditionellen Gärtner mehr, das läuft alles automatisch", sagt Meeuws. Und anders als in traditionellen Gewächshäusern leuchtet in den Pflanzkammern von PlantLab das ganze Jahr über optimales Licht. Deshalb sei der Ertrag drei- bis viermal größer, sagt Meeuws. Die Kammern ließen sich auch in einem Hochhaus mit beliebig vielen Etagen einbauen – oder unterirdisch, etwa in umgebauten Tiefgaragen. Ob die Methode allerdings wirklich mehr Treibhausgase vermeidet als sie verursacht, für eine Antwort auf diese Frage ist es noch zu früh.

Derzeit bereiten die Niederländer unter anderem in verschiedenen Städten der Golfregion und in China neue "Plant Production Units" vor, die genug Gemüse für einige Tausend Stadtbewohner produzieren sollen. Beide Gegenden dürften ein großes Interesse an der Technologie haben: Die eine ist zu heiß und zu trocken für herkömmlichen Gartenbau, die andere leidet unter massiven Umweltproblemen und dicht bebauten Millionenstädten. Beide könnten daher die nötigen Investitionen wagen, die bislang noch sehr hoch sind. Wie hoch, will Meeuws nicht beziffern. "50 Prozent fallen im Moment allein für die LED-Anlagen an", verrät der Ingenieur nur. Er erwartet aber, dass deren Kosten in den kommenden drei Jahren bei verdoppelter Effizienz auf ein Viertel fallen werden. Ab 2015 ließen sich die Pflanzkammern dann schon profitabel betreiben, zumindest mit Gemüse. Bis sich auch die gängigen Getreidearten – Reis, Mais, Weizen – zum gleichen Preis wie im traditionellen Landbau produzieren lassen, dauere es aber wohl noch mindestens 20 Jahre, schätzt Meeuws.

"Die Krux an vertikalen Farmen ist einfach, dass sie enorm teuer sind und die Gebäude kaum für etwas anderes genutzt werden können", sagt Volkmar Keuter vom Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik (IUSE) in Oberhausen. Das IUSE will deshalb im Infarming-Projekt ein einfacheres Konzept voranbringen: Dachfarmen. Das sind Gewächshäuser mit hydroponischem Anbau wie in Den Bosch, die auf bestehende Industrie- oder Bürogebäude aufgesetzt werden können. Beide nützen einander: Im Winter heizt die Abwärme des Gebäudes die Dachfarm mit; diese wiederum hält im Sommer die Hitze vom Gebäude fern, weil die Pflanzen Schatten spenden.

In Deutschland würden sich ein Viertel aller Dachflächen von Gewerbebauten für den Gemüseanbau eignen, rechnet Keuter vor. Das entspricht 300 Millionen Quadratmetern (30000 Hektar) – immerhin ein gutes Viertel der Fläche, auf der hiesige Landwirte Gemüse produzieren. Der Aufbau einer Dachfarm lohne sich ab 500 Quadratmetern (0,05 Hektar), besser ist Keuter zufolge allerdings das Doppelte.

Auf dem Dach des Fraunhofer inHaus-Zentrums in Duisburg wollen die Fraunhofer-Forscher demnächst ein Anwendungslabor für Dachfarmen errichten. Praktisches Know-how bekommen sie von der New Yorker Firma BrightFarms, die derzeit drei Dachfarmen installiert, eine davon auf einem Supermarkt in der Süd-Bronx. "Dort muss man das Gemüse nur noch vom Dach zur Auslage bringen – kürzer geht's nicht", sagt Keuter. Ein Dachgewächshaus von BrightFarms kostet für eine Fläche von 1000 Quadratmetern gut 1,5 Millionen Dollar. Dabei ließen sich, verglichen mit einem Anbau auf dem Acker, 70 Prozent Wasser einsparen und ein jährlicher Umsatz fast in Höhe der Bauinvestition erzielen, wirbt das Unternehmen. Ertrag: bis zu 250 Tonnen Gemüse, siebenmal mehr als im normalen Landbau auf gleicher Fläche.

Vorerst bremsen die Investitionskosten aber den Aufbruch in die neue Hightech-Landwirtschaft in der Stadt. Auch für die Duisburger Dachfarm fehlt noch die Finanzierung. Ob Urban Farming am Ende dazu führt, dass der Mensch sich in der Stadt sein eigenes geschlossenes Ökosystem der Zukunft schafft – sauber, nachhaltig und grün –, wie Dickson Despommier und andere Anhänger des Vertical Farming es propagieren, bezweifeln daher nicht wenige Experten. Armin Werner vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung beispielsweise hält die Warnung, es gebe in wenigen Jahrzehnten kaum noch nutzbare Ackerflächen auf der Welt, für "Demagogie". "Keine Stadt wird sich mit Nahrungsmitteln, Energie und pflanzlichen Rohstoffen selbst versorgen können", meint auch Frank Lohrberg, Landschaftsarchitekt an der RWTH Aachen.

Aber trotz aller Einschränkungen: Einen größeren Bei-trag werden die Äcker in der Stadt leisten können. Die Lowtech-Variante des "Urban Gardening" schließlich verbreitet sich zunehmend. Kreativ wird alles umgenutzt, was sich irgendwie für den Gemüsegarten in der Stadt eignet – sogar leere Milchpackungen werden zu kleinen Pflanzkästen. Statt Aero- oder Hydroponik gibt es ein Hochbeet, das zur Not aus alten Paletten oder Brotkisten zusammengezimmert wird. Die untere Schicht bilden Hölzer, Zweige, Erde und Gartenabfälle. "Innerhalb von drei Jahren entsteht daraus neuer Humus", sagt Frank Wünsche, Gartenbau-Ingenieur und einer der Aktivisten des Hamburger Gartendecks. Der kann dann erneut in Pflanzkisten umgefüllt werden – der Stadtgarten produziert so nach einer gewissen Anlaufzeit seine eigene Komposterde. Der Vorteil der mobilen Hochbeete ist, dass man sie sogar auf betonierten oder asphaltierten Flächen wie dem Parkdeck auf St. Pauli aufstellen kann. Dort fangen zwei große Tanks Regenwasser aus den Rinnen des Nachbargebäudes auf und halten den Verbrauch aus der städtischen Leitung auf einem Minimum.

Aber es sind ohnehin nicht Ökobilanzen und Ertragszahlen, die Innenstädter vermehrt in die neuen Gärten treibt. Das Gemüse wird nach der Ernte meist gemeinsam gegessen oder weiterverarbeitet. "Die Motive sind vielmehr, wieder regionale Sorten anzubauen, die es in Supermärkten nicht gibt, ein allgemeines Misstrauen gegenüber der heutigen Landwirtschaft und das soziale Miteinander", resümiert Armin Werner. Im Forschungsverbund ZFarm des Bundesforschungsministeriums untersucht er, wie eine städtische Landwirtschaft von morgen funktionieren könnte. Mit seiner Betonung des Teilens spiegelt Urban Gardening die Kultur der sozialen Netzwerke wider – und unterscheidet sich darin vom Schrebergarten.

Welchen Umfang selbst diese einfachen Ansätze annehmen können, zeigen die in London ansässigen Architekten Kathrin Bohn und André Viljoen. Sie haben das Konzept einer "kontinuierlichen produktiven Stadtlandschaft" entwickelt – und schätzen, dass die britische Hauptstadt sich zu 30 Prozent mit Obst und Gemüse versorgen könnte, wenn sie auf allen Brachflächen Gartenbau betreiben würde, auch ohne jede vertikale Farm. Der Nachhaltigkeitsforscher Niko Paech sieht im Urban Gardening eine erste Abkehr vom globalisierten Konsummodell mit seinen langen Transportwegen. "Sozial und ökologisch stabil werden am Ende nur Versorgungsstrukturen mit geringerer Distanz zwischen Verbrauchern und Produzenten sein", sagt Paech. Der Kohl im Hochbeet, der Salat in der Hightech-Hydroponik – sie seien erste Vorboten einer Ökonomie jenseits des Globalisierungsglaubens. (nbo)