Kenias Handy-Ambulanz

Mobilfunktechnologien können das Gesundheitswesen von Entwicklungsländern deutlich verbessern. Meist betreiben derartige Projekte westliche Organisationen. Doch in Kenia hat sich eine Start-up-Szene etabliert, die viel effizientere Lösungen entwickelt.

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Von
  • David Talbot
Inhaltsverzeichnis

Mobilfunktechnologien können das Gesundheitswesen von Entwicklungsländern deutlich verbessern. Meist betreiben derartige Projekte westliche Organisationen. Doch in Kenia hat sich eine Start-up-Szene etabliert, die viel effizientere Lösungen entwickelt.

Erick Njenga ist 21 Jahre alt und arbeitet an der Strathmore University in Nairobi an seinem Abschluss in Wirtschaftsinformatik. Der Sohn zweier Wirtschaftsprüfer trägt ein zahnlückiges Lächeln sowie einen zotteligen Ziegenbart im Gesicht und redet nicht viel. Aber er ist clever. Im vergangenen Jahr hat er gemeinsam mit drei Kommilitonen ein Programm entwickelt, das für ihn spricht. Mit dessen Hilfe können nun Tausende von kenianischen Gesundheitshelfern die Ausbreitung von Krankheiten mit ihren Mobiltelefonen erfassen und melden; das System kostete nur einen Bruchteil dessen, was die Regierung beinahe für ein ähnliches Angebot ausgegeben hätte.

Die vier Studenten sind nicht die einzigen Kenianer, die mit frischen Ideen und intimem Wissen über die Verhältnisse vor Ort die Probleme ihres Gesundheitswesens selbst in die Hand nehmen. Mittlerweile ist in dem ost- afrikanischen Schwellenland eine Generation von technikaffinen jungen Menschen herangewachsen, und eine schnell wachsende Start-up-Szene hat sich etabliert. Dabei zeigen die Einheimischen oft mehr Geschick als die ausländischen Wohltäter, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und multinationalen Unternehmen, die bislang beinahe ein Monopol auf technische Hilfe für Entwicklungsländer hatten.

Njenga spricht bescheiden über sein Projekt, doch das Problem, das er damit angeht, ist für sein Land von vitaler Bedeutung: Vier von hundert Bewohnern sind HIV-positiv; Aids, Tuberkulose und Malaria gehören zu den häufigsten Todesursachen, oft auch deswegen, weil medizinische Hilfe zu spät oder am falschen Ort geleistet wird. Vor zwei Jahren wurde der Regierung klar, dass sie an ihrem chaotischen Meldesystem für ansteckende Krankheiten etwas ändern musste. Bis dahin überfluteten handgeschriebene Berichte und SMS-Nachrichten über Todesfälle und Neuinfektionen aus gut 5000 Praxen überall im Land die mehr als 100 regionalen Büros der staatlichen Gesundheitsbehörde, bevor sie händisch in eine Datenbank eingegeben wurden.

Das Gesundheitsministerium beschloss, dass medizinische Mitarbeiter direkt vor Ort die Datenbank über ihre Mobiltelefone füttern sollten. Zuerst gingen die Beamten das Vorhaben auf konventionelle Weise an und prüften die Auftragsvergabe an einen multinationalen Partner. Das Ministerium entwarf einen Vertrag mit dem indischen Telecom-Riesen Bharti Airtel, der in Kenia ein Mobilfunknetz betreibt. Das Unternehmen wollte Zehntausende Dollar für Han-dys und SIM-Karten ausgeben und weitere 300000 Dollar für die Entwicklung der entsprechenden Telefon-Software kassieren. Das gesamte Paket belief sich auf 1,9 Millionen Dollar.

Der Vertrag wurde nie unterschrieben – das verhinderte der Justizminister, weil er Bedenken hatte, das Projekt an einen einzigen Mobilfunk-Provider zu binden. Aber wer sollte den Job übernehmen? Noch vor wenigen Jahren wäre es aussichtslos gewesen, in Kenia selbst nach einer Alternative zu suchen. Jetzt aber konnte sich der Leiter der Gesundheitsbehörde an Gerald Macharia wenden, den Ostafrika-Direktor der Clinton Health Access Initiative (CHAI), einem Arm der vom früheren US-Präsidenten Bill Clinton gegründeten Stiftung. Macharia wiederum telefonierte mit einem Dozenten der Strathmore University, und der holte die vier Studenten ins Boot; sie hatten im Frühjahr 2011 als Praktikanten bei der CHAI gearbeitet und dabei etwa 150 Dollar pro Monat verdient.

Mehrere Tage setzten sie sich mit Mitarbeitern des Gesundheitsministeriums zusammen und ließen sich erklären, wie die Daten bis dahin gesammelt wurden. Dann schrieben sie die Telefon-Applikation herunter und überarbeiteten die Datenbank-Software so, dass Aktualisierungen von jedem mobilen Web-Browser aus möglich wurden. Im Sommer 2011 war ihr "Integrated Disease Surveillance and Response"-System fertig und im Ministerium implementiert; der Großteil der von Bharti Airtel für nötig erachteten Kosten fiel nie an. Das Projekt sei "hart, aber nicht allzu schlimm" gewesen, sagt Njenga. "An manchen Tagen haben wir bis zwei Uhr morgens gearbeitet." Jetzt entwickeln er und seine Mitstreiter eine SMS-Version, damit auch Helfer ohne Web-Zugriff Berichte schicken können – von jedem beliebigen Mobiltelefon aus. Zugleich arbeiten sie an einer Methode, wie das Gesundheitsministerium Arzneilieferungen an Krankenhäuser und Praxen nachverfolgen kann, um Versorgungslücken und Verschwendung zu verhindern. Für die Kenianer sind Verbindungen per Mobiltelefon eine wichtige Lebensader. Etwa 26 der 41 Millionen Einwohner besitzen ein Handy, 18 Millionen davon verwenden es für Banktransaktionen und andere Geschäfte. Die meisten nutzen dafür einen Dienst namens M-Pesa, der vom marktführenden Mobilfunk-Provider des Landes, Safaricom, angeboten wird.

Wenn Mobiltelefone im Gesundheitswesen Kenias eine ebenso große Bedeutung gewinnen würden wie beim Banking, könnte das weitreichende Folgen haben: Eine zunehmende Zahl von Forschungsarbeiten weltweit zeigt, dass Handys sich nicht nur zum Melden von Krankheiten eignen, sondern die Gesundheitsversorgung auch insgesamt verbessern können. Denn sie erleichtern den Kontakt zu Ärzten, können Patienten an die Einnahme von Medikamenten oder Eltern an Impftermine ihrer Kinder erinnern, und sie versetzen Ärzte selbst in abgelegenen Gegenden in die Lage, Patientenakten einzusehen, zu aktualisieren und zu verwalten. Noch gibt es allerdings eine große Lücke zwischen Vision und Wirklichkeit der sogenannten "mHealth". Laut der in Washington ansässigen "mHealth Alliance" sind allein in Kenia 45 verschiedene mHealth-Projekte in Entwicklung oder fertiggestellt – mehr als in jedem anderen Land. Die meisten davon wurden von Philanthropen, Hilfsagenturen und NGOs erdacht und finanziert. Inhaltlich gibt es eine große Bandbreite: Ein Projekt zum Beispiel dient der Bezahlung für Behandlungen über M-Pesa; ein anderes verifiziert per SMS die Echtheit von Medikamenten anhand ihrer Seriennummer.