Das brodelnde Klassenzimmer

Die Chemieindustrie fürchtet einen gravierenden Mangel an Auszubildenden. Ihr Bedarf an Facharbeitern und Ingenieuren ließe sich dann nicht mehr decken. Am Niederrhein versucht deshalb die bundesweit einmalige Chemie-Akademie, Schüler fürs Pipettieren und Titrieren zu begeistern.

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  • Stefan Brunn
Inhaltsverzeichnis

Die Chemieindustrie fürchtet einen gravierenden Mangel an Auszubildenden. Ihr Bedarf an Facharbeitern und Ingenieuren ließe sich dann nicht mehr decken. Am Niederrhein versucht deshalb die bundesweit einmalige Chemie-Akademie, Schüler fürs Pipettieren und Titrieren zu begeistern.

Die Kittel hängen noch ein bisschen steif auf den Schultern, und der eine oder andere muss auch erst hineinwachsen. Sonst aber könnte man die Teenager der Chemie-Akademie durchaus für richtige Forscher halten, die in Europas größtem Chemiepark täglich ihren Dienst verrichten. Sie sind aber nur samstags hier. Denn die Chemie-Akademie in Krefeld am Niederrhein soll Schüler der zehnten und elften Klasse in bundesweit einmaliger Form für die Branche gewinnen. Ein Jahr lang kommen an jedem zweiten Samstagmorgen 28 Jungen und Mädchen in das Ausbildungszentrum der Bayer-Tochter Currenta und lernen, was Chemie in der Praxis eines Großunternehmens bedeutet. Zum Beispiel: Aspirin selber im Labor herstellen. Oder: Gipskarton produzieren. Oder, besonders praxisnah: den Fettgehalt von Kartoffelchips bestimmen.

Selbst zu experimentieren ist für die Jungforscher oft das Spannendste: "Zum Beispiel, wenn wir Kreide selber machen und dabei Säubern und Versetzen üben", sagt Kilian Reimann. Die Chemiker-Begriffe für das Reinigen von Stoffgemischen und das Vermischen von Substanzen gehen dem 18-Jährigen leicht über die Lippen. Er legt beim Tüfteln im Labor eine kurze Pause ein, um ganz nebenbei druckreife Auskünfte wie ein Forschungsminister zu geben: "Manche Versuchsreihen sind zwar lang und zäh, aber das gehört später im Beruf ja auch dazu." Nach dem Abitur wird er, so viel steht für ihn schon fest, Chemie studieren – und sogar den Doktortitel hat er schon im Blick. Für ihn ist die Akademie ein Spaß, manche Aufgaben wie einen Ionen-Nachweis empfindet er fast als Unterforderung: "Das ist ja nicht sehr kompliziert, da könnte man mehr machen." Aber es gebe in den über 100 Stunden in der Akademie auch immer wieder einiges, was er noch nicht kenne. Die Berechnung von Preisen für die Produktion sei zum Beispiel etwas, was in der Schule gar nicht vorkomme.

"Die Schüler, die an der Akademie teilnehmen, kommen schon mit ordentlichem Vorwissen aus dem Chemieunterricht zu uns und wollen ihr Wissen vertiefen", erklärt Currenta-Ausbilder Robert Ermel die Basis des Projekts. Die Schüler fordern ihre Ausbilder dabei durchaus, was Ermel verständlich und erfreulich findet – schließlich bezahlen sie 25 Euro im Monat dafür und quälen sich am Samstagmorgen aus dem Bett. Dafür ist die personelle Ausstattung für die Ausbildung deutlich besser als in jeder Schule: Wo normalerweise ein Lehrer auf 25 Schüler kommt, ist in der Chemie-Akademie ein hauptamtlicher Dozent für sieben Schüler da. Und bei den Versuchen teilen sich immer zwei Teilnehmer eine Aufgabe, wozu in der Schule meist schon das Material gar nicht reicht.

In der Chemie-Akademie sollen die Schüler ihr Interesse an Chemie ohne Noten- und Zeitdruck richtig ausleben können. "Wenn sie in der Schule den Glasapparat aufgebaut haben, ist die Stunde rum", formuliert es Ausbilder Ermel überspitzt. In der Chemie-Akademie dagegen hätten die Schüler stundenlang Zeit, "mal was zu kochen", die Produktkreisläufe zu verstehen und auch größere Volumina kennenzulernen als den üblichen 500-Milliliter-Kolben. "Dass man mit kleinen Versuchsanordnungen keine großen Mengen produzieren kann, ist jedem klar, aber in der Schule kann der Lehrer auch nicht mehr vorführen", sagt Ermel. "Bei uns im Technikum arbeiten wir dagegen mit 100- und 400-Liter-Kesseln. Die haben sogar Glasaufbauten, damit man drinnen auch etwas sieht."

Insgesamt hat Currenta den 16- bis 18-jährigen Chemie-Akademikern, von denen rund die Hälfte weiblich ist, einiges zu bieten, weil ein Betrieb in dieser Größenordnung für seine Auszubildenden ohnehin eine ansehnliche Infrastruktur vorhält. Currenta ist Betreiber eines Chemieparks mit über 7500 Beschäftigten. Das Technikum verfügt über 28 Mini-Chemieanlagen, in denen modernste Automatisierungstechnik Produktionsprozesse im Kilogramm-Maßstab steuert. Im Unterricht, der samt Pausen fünf Stunden dauert, können die Dozenten auf Erfahrungen und Experimente zurückgreifen, die sie in Aus- und Weiterbildungen gesammelt haben.

Zum Programm der Chemie-Akademie gehört zunächst ein präparatives Grundpraktikum: Hier lernen die Schüler erst mal, wie man mit den Glasgeräten oder einem Rührapparat umgeht, wie man etwas erhitzt oder kühlt, und warum es wichtig ist, sämtliche Arbeiten fein säuberlich zu dokumentieren. Im nächsten Schritt werden dann physikalische Trennverfahren eingeübt. Anschließend folgen qualitative und quantitative Analysen samt Titrieren (Maßanalyse) und Pipettieren (Dosierung) sowie die sogenannte instrumentelle Analytik: Hier können die Schüler selbst Hand an Geräte legen, die sie bisher höchstens in den Forensik-TV-Serien im Einsatz gesehen haben – zum Beispiel Gaschromatografen und Photometer, um die Zusammensetzung von Stoffen zu bestimmen.

Dabei lernen sie zudem, dass viele Laborexperimente auch außerhalb des Werksgeländes nützlich sind. So werden etwa für den Umweltschutz Wasserproben ebenfalls per Photometrie auf ihren Phosphatgehalt getestet. Den Ausbildern ist es dabei nicht nur wichtig zu erklären, warum die aus Reinigungsmitteln stammenden Phosphate im Abwasser abgebaut werden müssen, sondern auch, wie ein Photometer funktioniert.

Noten verteilt die Akademie nicht, sie vergibt nur ein Abschlusszertifikat. "Wir wollen hier ja Freude an Experimenten schaffen, was in der Schule aus verschiedenen Gründen nicht immer gelingt", versichert Ermel. Er fügt aber auch hinzu: "Der Leistungsdruck entsteht von selbst bei den Experimenten, wenn sie glücken oder eben nicht." Teil des Programms ist denn auch eine richtige Labor-Rallye. Die Teilnehmer müssen an mehreren Stationen die verschiedensten Aufgaben lösen, etwa eine bestimmte Lösung ansetzen oder den Zuckergehalt in einer Flüssigkeit herausfinden. Welche Methoden sie dabei verwenden, müssen die Schüler selbst entscheiden.

Am meisten sind die Jungchemiker vom Technikum begeistert: Denn während sie die Verfahren in der Schule nur im kleinen Maßstab zu sehen bekommen, wird hier in ganz anderen Dimensionen produziert. Im Technikum lernen sie aber gleichzeitig auch, dass der größere Maßstab ganz eigene Schwierigkeiten aufwerfen kann. Experimente wie das Schütteln von Gemischen laufen im Reagenzglas oft problemlos ab und liefern sofort eine klare Flüssigkeit. Das sieht in den echten Kesseln im Technikum oder gar in der Großproduktion manchmal ganz anders aus – hier können Krusten entstehen, kann sich Schlamm ablegen oder etwas kristallisieren. Was im Reagenzglas kein Problem ist, kann in der Produktion teuer werden, weil etwa die Qualität sinkt und Kunden sich beschweren.

Dass sich die Chemieindustrie so ins Zeug legt, um den Nachwuchs zu begeistern, hat Gründe: Alle Demografieanalysen zeigen, dass auf die Branche ein Fachkräftemangel zukommt. Denn die Chemieindustrie in Deutschland ist eine Wachstumsbranche und benötigt dringend Nachwuchs – doch derzeit wandern mehr Fachkräfte ins Ausland ab als nach Deutschland ein. Noch dramatischer sind jedoch die Auswirkungen der geburtenschwachen Jahrgänge. Heute schon ist jeder sechste der 414800 Beschäftigten in der Branche über 55 Jahre alt. "Die Betriebe müssen umdenken. Sie müssen ihre Attraktivität deutlicher machen, sonst fehlt es bald an Fachkräften", warnt Astrid Holzhausen von der Unternehmerschaft Niederrhein, der Initiatorin der Chemie-Akademie. "Im nächsten Jahr haben wir den doppelten Abiturjahrgang. Danach brechen die Schulabgängerzahlen ein", warnt sie.