Die Ewigmorgigen

Ist die exzessive Nutzung digitaler Technik Sucht oder Lebensstil? Erleben wir den Beginn eines neuen Zeitalters und einer neuen Kulturstufe – oder ist das Ganze nur teures Spielzeug für Technikverliebte?

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Von
  • Peter Glaser

Ist die exzessive Nutzung digitaler Technik Sucht oder Lebensstil? Erleben wir den Beginn eines neuen Zeitalters und einer neuen Kulturstufe – oder ist das Ganze nur teures Spielzeug für Technikverliebte?

"Ich kenne jemanden", sagt der Taxifahrer, "dort kann ich das machen". Jemanden, der einen Internet-Zugang hat. Dorthin geht er, wenn er eine E-Mail verschicken möchte. Der Taxifahrer ist kein Fortschrittsfeind. Er hat ein Navigationsgerät am Armaturenbrett, und nachdem er seine eigenen Vorstellungen von der Fahrtroute präsentiert hat, hört er sich sozusagen höflichkeitshalber auch noch an, wie das Navi gefahren wäre. Dass er eine gewisse Distanz zum Internet hält, ist seine freie Entscheidung. Vielleicht könnte er ein paar Fahrten mehr machen, wenn er zum Beispiel ein iPhone und die MyTaxi-App benutzen würde, aber es geht auch so. Er hat ein einfaches, altes Handy.

Der Taxifahrer gehört zu einer nach wie vor beachtlichen Gruppe in unserer Gesellschaft, deren Mitglieder sich aus unterschiedlichen Motiven von der digitalen Welt nur wenig angezogen fühlen. Mehr als 1,7 Milliarden Menschen sind inzwischen online, statistisch jeder vierte Mensch auf diesem Planeten, davon 427 Millionen Europäer, davon wiederum etwa 48,3 Millionen Deutsche, das sind rund 72 Prozent der deutschen Bevölkerung über 14. Zugleich heißt das aber auch: Etwa 19 Millionen Menschen sind offline – und damit nach Meinung mancher Enthusiasten "nicht integriert" und "draußen". Ihnen fehle es an Akzeptanz oder sie seien schlichtweg ignorant.

Information soll die Welt retten, das war die Hoffnung zu Beginn des Internet-Zeitalters. Und tatsächlich hat eine friedliche technologische Umwälzung in den zurückliegenden drei Jahrzehnten die Welt auf ebenso tiefgreifende wie vielfältige Weise verändert und in eine digitale Welt zu verwandeln begonnen. Ganze Branchen sind verschwunden oder im Umbruch. Es gibt so gut wie keine Schriftsetzer und Fotolabors mehr, statt ganzer Alben verkaufen Musiker nun oft einzelne Tracks und in der Marketing- und Medienwelt haben neue globale Player wie Google, Apple oder Facebook Einzug gehalten.

Für die IT-Industrie stellt sich in immer rascherer Folge die Frage, wie man jemandem ein paar hundert Euro aus der Tasche ziehen kann, obwohl er bereits einen oder zwei Rechner hat, ein Tablet und ein Smartphone. Die Lösung heißt: Man verkauft den Menschen keine Produkte, sondern eine Weltanschauung; Hardware und Software werden beigelegt. Die passende Weltanschauung könnte man Digitalismus nennen.

Trotzdem gibt es weiterhin Menschen wie den Taxifahrer, die der Ansicht sind, dass jeder Mensch nach wie vor das Recht hat, keinen Computer besitzen zu wollen oder nicht ans Netz angeschlossen zu sein. Viele fühlen sich von dem ständigen Innovationsgesprudel nicht angeregt, wie die jungen Vielnutzer, sondern bedrängt und abgeschreckt. Nicht einmal 20 Prozent der Deutschen wissen, wie das Internet funktioniert, viele nutzen quasi nur eine sehr reduzierte Oberfläche.

Eine entscheidende Rolle bei der Anpassung des Menschen an neue Technologien spielt Zeit. Eine gewisse Gelassenheit beim Lernen. Niemand lässt sich gern panisch machen, er würde den Anschluss an die Zukunft verpassen, wenn er sich nicht augenblicklich den neuesten Satz Hardware, Software und Medientrends (soziale Medien!) besorge. Früher gaben das Prüfen und Testen einer Erfindung genügend Zeit nicht nur zur Überwindung der ihr anhaftenden Fehler, sondern auch, um die Gemeinschaft darauf vorzubereiten – obwohl auch diese Barrieren nicht immer genügend sozialen Schutz boten, wie man an den himmelschreienden Übeln sehen konnte, die das Industriezeitalter mit sich brachte.

Heute stehen wir der umgekehrten Situation gegenüber: Das jeweils neueste digitale Projekt verlangt von der Gesellschaft um jeden Preis sofort übernommen zu werden. Jedes Zögern gilt als sträflich, oder als kulturelle Rückständigkeit. Der Konformitätsdruck, den die Vertreter des Digitalismus ausüben, ist hoch. Aber sind diejenigen, die sich für eine digitalen Evolution anstelle der Revolution entscheiden, tatsächlich verloren, zurückgeblieben, ignorant?

Wir sollten alle einladen in diese neue Welt, die vielen von uns so wichtig ist. Wenn wir wollen, dass alle Menschen etwas vom technologischen Fortschritt haben, brauchen wir eine modernisierte Form der Gastfreundschaft – und Brückentechnologien. Solche, die nicht nur die Early Adopter und die technologisch Versierten ansprechen, sondern auch den Rest der Menschheit. Wobei dieser Rest nicht wirklich ein Rest ist. Es sind etwa 90 Prozent der Bewohner dieses Planeten. Die meisten Entwickler auf der Welt stecken ihre Energie in Produkte und Dienstleistungen, die exklusiv den wohlhabendsten 10 Prozent der Weltbevölkerung zugute kommen. Wir brauchen einen Fortschritt, der auch die übrigen 90 Prozent erreicht. (bsc)