Verriss des Monats: Die Langeweilevernichtungsindustrie

"Langweile ist das Gefühl des falschen Lebens", hielt der Schriftsteller Peter Handke einmal in seinem Tagebuch fest. Zur Vermeidung dieses sehr modernen Lebensgefühls gibt es verschiedene, teils bemerkenswerte technische Ansätze.

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Von
  • Peter Glaser

"Langweile ist das Gefühl des falschen Lebens", hielt der Schriftsteller Peter Handke einmal in seinem Tagebuch fest. Zur Vermeidung dieses sehr modernen Lebensgefühls gibt es verschiedene, teils bemerkenswerte technische Ansätze.

Die Kunst des gepflegten Verreißens zweifelhafter Produkte ist ein wenig aus der Mode gekommen. An dieser Stelle präsentiert unser Kolumnist Peter Glaser einmal im Monat deshalb eine Rezension der etwas anderen Art: den Verriss des Monats. Vorschläge für besonders zu würdigende Produkte werden gerne per Mail entgegengenommen.

Man könnte im Großen sagen, dass das Internet inzwischen so etwas wie der wirkungsvollste Weilchenbeschleuniger der Welt geworden ist. Die ständig zunehmenden Informationspartikelströme gefährden das verbleibende planetare Langeweilepotenzial aber nur scheinbar.

In Online-Spielen wie World of Warcraft etwa können gelangweilte Gamer schon seit Jahren auf die Hilfe bezahlter chinesischer Profispieler zurückgreifen, die einem das manchmal trostlose Sich-Voranarbeiten durch komplexe Levels abnehmen. Die Arbeitsteilung ist eine Folge der Globalisierung. Als die künstlichen Welten ans Netz gingen, hatte eine internationale Konkurrenz zwischen Spielern aus aller Herren Länder eingesetzt, und um den Anschluss nicht zu verpassen, auch wenn man gerade nicht online war, um unterschiedlichen biologischen Funktionen Tribut zu zollen, konnten Spieler bald Babysitter für ihren Account engagieren. Aus dieser Dienstleistung entwickelte sich in China eine regelrechte Langeweilevernichtungsindustrie mit tausenden von Online-Gaming Factories.

Vor einiger Zeit entdeckte das "Wall Street Journal" leidenschaftliche Langeweile-Enthusiasten, die die Freuden der Unterstimulation propagieren. Auf der seit 2010 in London stattfindenden Langeweilekonferenz "Boring" beschenken Vortragende die Zuhörer beispielsweise mit längeren Betrachtungen "über die unbegreifliche Schönheit von Parkhausdächern" oder einer Lesung der kompletten Liste mit 415 Farbbezeichnungen aus einem Katalog für Malerfarben ("damson dream, dauphin, dayroom yellow, dead salmon..."). Den angeödeten Gesichtern im Publikum sei zu entnehmen gewesen, dass die Vorträge ins Schwarze getroffen hätten, so ein Berichterstatter. Die "Boring 2012", die Ende November abgehalten wurde, war mit dem Hinweis beworben worden, auf der Veranstaltung werde "nichts Interessantes, Lohnenswertes oder Bedeutsames" debattiert und man wolle das weiterhin jedes Jahr wiederholen, "until people tell us to stop".

Während die Langeweilefreunde sich als revolutionäre Gegenbewegung zum Heer der informationszerzausten Internet-Zeitgenossen sehen, versuchen Forscher am MIT allen Ernstes, eine rechnergestützte Langeweileerkennung zu entwickeln, um etwa bei Referaten das Abfallen der Aufmerksamkeit und das daran anschließende Einsetzen von Langeweile künftig automatischen Detektoren entnehmen zu können.

Dr. Rana el Kaliouby, die inzwischen zusammen mit Professor Rosalind Picard das MIT-Startup Affectiva gegründet hat und "Emotionsmessung für die Massen" anbieten möchte, hat ihre Arbeit mit der Entwicklung einer Prothese für soziale Intelligenz begonnen, die aus Kameraaufnahmen von Körpersprache und Gesichtsausdruck algorithmisch die zugehörigen Gefühle interpretieren soll und zu vibrieren beginnt, sobald sich das Zentrum des Interesses aus dem Zuhörer oder Gesprächsteilnehmer zu verlagern beginnt.

Wiewohl ein solches Hilfsmittel für milde Formen von Autismus nützlich sein kann, um die fehlende Fähigkeit zur Empfindungswahrnehmung zu substituieren, lässt es bei der Anwendung an gewöhnlichfühlenden Menschen kuriose Vorstellungen aufkommen, die an den Kubrick-Film "A Clockwork Orange" erinnern, in dem ein notorischer Gewalttäter auf technischem Weg so umkonditioniert wird, dass ihm jedes Mal schlecht wird, wenn er mit Gewalt auch nur auf symbolischer Ebene in Berührung kommt.

Die Vorstellung von Vortragenden, die, mahnend anvibriert von der Maschine, jählings thematische Wendemanöver unternehmen müssen, um gegen eine drohende Interessensflaute anzusegeln, erinnern auf fatale Weise an die verordneten Trauerbekundungen anlässlich des Hinscheidens von Kim Jong Il, dessen Sohn und Nachfolger eine Säuberungsaktion in der nordkoranischen Generalität mit mangelnd geäußertem Mitempfinden begründete.

Dabei gibt es durchaus schöpferische und vergnügliche Methoden, in Einklang von Software und Mensch zu präsentieren, zum Beispiel das "PowerPoint-Karaoke". Das von den Kreativen der Berliner Zentralen Intelligenz-Agentur (ZIA) erfundene Prinzip ist einfach: Jeder Teilnehmer bekommt willkürlich eine im Internet gefundene PowerPoint-Präsentation zugeteilt und muss sie möglichst überzeugend einem Publikum präsentieren, und zwar ohne sie vorher gesehen zu haben.

Die Umsetzung erfordert Flexibilität und ein gewisses Improvisationsvermögen – unter anderem, weil von den Veranstaltern gern so genannte "Horrorfolien" ausgewählt werden, also Präsentationen mit viel zu viel Text oder mit total eigenartigen Grafiken, die wahrscheinlich nicht einmal der Schöpfer selbst vollständig versteht. Es handelt sich um eine Art Astronautentrainingscenter für Präsentationswillige, wobei es vorkommen kann, dass man ohne jegliches Fachwissen über Kohärenztomografie plaudern oder den Zuhörern "Innovative Verfahrenstechnik im chemischen Reinigungsprozess" schmackhaft machen muss. Mehrere Freiwillige treten mit dieser Aufgabe gegeneinander an, der Gewinner wird am Ende per Applauslautstärke des Publikums gekürt. ()