"Null Toleranz" ist nutzlos

Die EU-Kommission will bei Lebensmitteln Verunreinigungen mit Gentech-Pflanzen erlauben, die nicht in Europa zugelassen sind. Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner will das nicht. Mehr Gentechnik landet trotzdem auf deutschen Tellern.

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Von
  • Robert Thielicke

Die EU-Kommission will bei Lebensmitteln Verunreinigungen mit Gentech-Pflanzen erlauben, die nicht in Europa zugelassen sind. Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner will das nicht. Mehr Gentechnik landet trotzdem auf deutschen Tellern.

Robert Thielicke ist Chefredakteur von Technology Review. Der Diplom-Biologe versteht das Unwohlsein gegenüber Gentech-Lebensmitteln, sieht aber keine wissenschaftlich haltbaren Gegenargumente.

Geht es um Gene, geht es erstaunlich selten um Logik. Künftig will die EU-Kommission geringe Spuren genveränderter Organismen in Lebensmitteln akzeptieren, selbst wenn diese nicht in der EU zugelassen sind – wohl aber in Ländern wie den USA oder Kanada. Bisher gilt für diese Sorten "null Toleranz", fortan soll die Schwelle bei 0,1 Prozent liegen. Als sich Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) Mitte Juni gegen diese Aufweichung aussprach, war der Jubel von Konsumenten und Umweltverbänden groß. Doch was wie tatkräftiger Verbraucherschutz wirkt, ist in Wahrheit Symbolpolitik. Die unbequeme Wahrheit ist: Ob mit oder ohne "null Toleranz", auf die Bürger kommt mehr Gentechnik zu.

Denn Europa und erst recht Deutschland stehen auf verlorenem Posten. Weltweit steigt der Anbau von Gentech-Pflanzen, allein zwischen 2010 und 2011 um acht Prozent auf inzwischen 160 Millionen Hektar. Bei Soja stellen diese Sorten bereits 80 Prozent der Menge auf dem Weltmarkt.

Die Sprossen landen zwar vorwiegend im Tierfutter. Aber Verunreinigungen von Lebensmitteln kommen häufig vor, weil die Transporte der Tierfutter-Rohstoffe kaum von jenen für Lebensmittel zu trennen sind. Oft befördert ein Schiff mit der ersten Ladung Gentech-Futter für Tiere und mit der nächsten klassische Ware für Lebensmittel. In Deutschland wies 2010 daher fast jede vierte Sojaprobe aus dem Lebensmittelhandel Spuren gentechnisch veränderter Organismen auf.

Die einfachste Möglichkeit, ihnen aus dem Weg zu gehen, wäre: Europa müsste weniger Fleisch essen. Die Tierbestände könnten sinken, heimischer Raps und Mais würde ausreichen, sie zu füttern. Das aber, lehrt die Geschichte, wird nicht passieren.

Die Hoffnung dagegen, Europa könne die Erzeuger in Argentinien, Brasilien oder den USA zum Umdenken bewegen, wird enttäuscht werden. Dazu ist die Marktmacht des Kontinents nicht mehr groß genug. Allein China führte nach Zahlen der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO 2009 fast viermal so viel Soja aus Übersee ein wie sämtliche 27 EU-Länder zusammen. Mit Gentechnik hat das fernöstliche Reich bekanntlich wenig Probleme. Verweigert sich also Europa der Zulassung neuer Sorten, sinken die verfügbaren Rohstoffmengen.

Die Folgen untersuchte eine Studie unter anderem des Agricultural Economics Research Institute der Universität Wageningen in den Niederlanden. Sie wurde im Auftrag der EU-Kommission erstellt und im Dezember 2010 veröffentlicht. Brechen die Lieferungen aus den USA weg, erhöhen sich die Sojapreise hierzulande um 25 Prozent. Ist zusätzlich noch die Ware aus Brasilien und Argentinien betroffen, sind es 210 Prozent. Die Zahlen mögen auf extremen Annahmen basieren. Sie zeigen allerdings, wie eng der Markt für komplett gentechnikfreie Ware mittlerweile geworden ist.

Europas Sonderposition wäre dennoch gerechtfertigt, würden die Gentech-Sorten jene Gesundheitsgefahr darstellen, die viele fürchten. Trotz zahlreicher Studien fehlt dafür aber nach wie vor der Beweis. Selbst die Weltgesundheits-organisation WHO kommt zu dem Schluss, dass die derzeit weltweit gehandelten Sorten "wahrscheinlich kein Gesundheitsrisiko für den Menschen darstellen". Was also wird die EU-Kommission angesichts dieser Lage tun? Das Gleiche, was sie schon mit 49 anderen gentechnisch veränderten Sorten von Baumwolle über Raps, Mais und Soja getan hat: fleißig Importgenehmigungen erteilen. Aus "null Toleranz" wird so ganz offiziell 0,9 Prozent Toleranz. Denn sobald die neuen Varianten für den EU-Markt zugelassen sind, dürfen Lebensmittel bis zu einem Anteil von 0,9 Prozent aus ihnen bestehen – ohne dass Hersteller dies angeben müssen. (rot)