Die Masche mit der Meinungsfreiheit

Werden US-Pharmafirmen dabei erwischt, dass sie verbotenerweise unbelegte Zusatznutzen anpreisen, berufen sie sich immer öfter auf die Meinungsfreiheit. Wofür sich dann noch überhaupt mit der Zulassung aufhalten?

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Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Werden US-Pharmafirmen dabei erwischt, dass sie verbotenerweise unbelegte Zusatznutzen anpreisen, berufen sie sich immer öfter auf die Meinungsfreiheit. Wofür sich dann noch überhaupt mit der Zulassung aufhalten?

In den Kreisen der US-Pharmafirmen macht derzeit eine Argumentation Schule, die man sich auf der Zunge zergehen lassen muss: Wenn Pharmareferenten bei Ärzten klinisch nicht belegte Zusatzwirkungen von Medikamenten anpreisen – sogenannte Off-Label-Anwendungen –, dann handelt es sich um freie Meinungsäußerung. Diese Begründung brachte auch Alfred Caronia vor, ehemaliger Pharmareferent des US-Unternehmens Orphan Medical (das inzwischen von Jazz Pharmaceuticals aufgekauft wurde), als er Berufung gegen seine 2008 erfolgte Verurteilung einlegte.

Der Vorwurf gegen ihn: Er habe das nur für die schwere Narkolepsie-Schlafstörung zugelassene Mittel Xyrem auch für andere Gesundheitsprobleme wie etwa Müdigkeit und Fibromyalgie beworben. Off-Label-Marketing ist allerdings für Pharma-Unternehmen und -Referenten laut dem US-Gesetz über die Zulassung von Nahrungsmitteln, Arzneimitteln und Kosmetika unzulässig. Ärzte dürfen – auch in Deutschland – Off-Label-Verschreibungen vornehmen, haften allerdings für eventuelle Schäden und setzen häufig etwa bei Krebserkrankungen auf diese Strategie, wenn kein reguläres Medikament mehr hilft.

Caronia hatte mit der abenteuerlichen Argumentation jedenfalls überraschenderweise Erfolg und bekam letzte Woche vor einem New Yorker Berufungsgericht Recht. Mein lieber Herr Gesangsverein! Man ist ja von US-Gerichten gelinde gesagt überraschende Urteile gewohnt. Aber hier stellt sich dann doch die Frage: Wofür soll man sich dann überhaupt noch mit klinischen Studien aufhalten? Die Nachricht verursachte im US-Blätterwald denn auch ein großes Rauschen, obwohl das Urteil zunächst nur im Bezirk New York gilt und angefochten werden kann. Denn der Fall Caronia ist nicht der einzige seiner Art. Auch andere Pharmaunternehmen versuchen, auf denselben Wagen aufzuspringen. Das Wall Street Journal (WSJ) etwa berichtete letzte Woche von einer laufenden Gerichtsverhandlung gegen den früheren Geschäftsführer des US-Unternehmens InterMune.

Dessen Medikament Actimmune gegen Lungenfibrose soll einer klinischen Studie sämtliche Untersuchungsziele verfehlt haben. Trotzdem gab die Firma zwei Wochen später eine Pressemeldung heraus, in der sie die Ergebnisse einer Daten-Neuanalyse vorstellte. Sie warb damit, dass der Wirkstoff bei bestimmten Patienten die Sterblichkeitsrate um 70 Prozent gesenkt habe. Allerdings war die Sterblichkeitsrate wie gesagt gar nicht untersucht worden. Laut WSJ verschwieg die Pressemeldung diesen Umstand bequemerweise. Die InterMune-Anwälte argumentierten ähnlich schmerzfrei wie Caronia: Die Pressemeldung gebe eine wissenschaftliche Meinung wieder und sei deshalb durch die Meinungsfreiheit gedeckt.

Aber da scheint jenseits des großen Teiches etwas gehörig durcheinander geraten zu sein. Die Zulassungsbestimmungen haben ihren Sinn – was nicht getestet wurde oder nicht einwandfrei zu belegen ist, darf nicht beworben werden. Wenn sich ein Zusatznutzen abzeichnet, was regelmäßig vorkommt, gibt es die Möglichkeit, dafür nachträglich eine Zulassungserlaubnis einzuholen. Allerdings wird sich die Praxis wohl leider nicht ausmerzen lassen. Die Argumentation mit der Meinungsfreiheit mag verhältnismäßig neu sein. Die Strategie, es trotz des Verbotes zu versuchen, ist es nicht. Die Aussicht auf den Zusatzverdienst dürfte auch im Fall des Erwischtwerdens und einer Strafzahlung – zum Teil in dreistelliger Millionenhöhe – zu lukrativ sein. (vsz)