Interview: "Münster ist für Nestbeschmutzer ideal"

Knutschende Hooligans, fixende Burschenschaftler, Tauben aufspießende Spaziergänger: Das Duo Tilmann Rademacher und Hanno Endres zeigen ihre ganz eigentümliche Perspektive der Westfalen-Perle Münster.

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Hanno Endres, Jahrgang 1974, ist Konzert-, Werbe- und Pressefotograf

(Bild: Hanno Endres)

Münster, die beschauliche Studentenstadt mit den vielen Radfahrern, mit dem Schloss und dem See und dem "Tatort" mit der Rekordquote – an so einem Ort ist doch alles wunderbar. Nicht ganz. Schauspieler Tilman Rademacher und Fotograf Hanno Endres haben in Münsters Abgründe geschaut. Fixende Burschenschafter, Mord an Tauben, der Kampf zwischen Rad- und Autofahrern und "der Westfale an sich" – von alledem erzählt ihre inszenierte Fotoserie "Münster morbid". Immer haarscharf an der Wirklichkeit dran. Die Kollegen von Seen.by haben die beiden Künstler getroffen und mit ihnen übers Nestbeschmutzen gesprochen.

Herr Rademacher, Herr Endres, was nervt Sie am meisten am schönen Münster?

Tilman Rademacher: Eindeutig dieser tumbe, selbstgefällige Heimatstolz, der einem hier entgegen schlägt. Dieser übertrieben zur Schau gestellte Stolz, der in dem Etikett "Münster, die lebenswerteste Stadt der Welt" gipfelt, mit dem das Stadtmarketing gerne wirbt. Münster ist schön, wird aber bis zum Exitus tourimäßig ausgeschlachtet.

"Münster morbid" ist also so was wie das Gegengift gegen die heile Welt?

Tilmann Rademacher (links), geboren 1978 in Münster, hat Kommunikationsdesign und katholische Theologie studiert und arbeitet als Schauspieler für Film und Theater, als Sprecher, Autor und Regisseur.

(Bild: Hanno Endres/ Tilmann Rademacher )

Tilman Rademacher: Wir wollten dem Marketing was entgegensetzen. Die Idee, Münster mal von seiner hässlichen Seite zu zeigen, hatte ich in der Kneipe. Ein Bekannter kam rein und erzählte, er hätte gerade die Stationen seiner Jugend in Münster abfotografiert. Aber das Licht sei sehr ungünstig gewesen und dadurch hätten die Fotos alle so einen morbiden Charme. Das haben Hanno und ich aufgegriffen. Erst haben wir überlegt, ob wir realistisch zum Beispiel die Junkies hinterm Bahnhof zeigen sollen. Aber wir wollten das Ganze ironisch brechen und haben uns für die konsequente Inszenierung entschieden.

Souvenir für Touristen: Aaseeschluck. Dem echten Wasser des Aasees sollte man aber nicht zu nahe kommen.

(Bild: Hanno Endres/ Andy Strauss)

Hanno Endres: Die Episode "Aaseeschluck", wo der Rocker seinen Schuldner mit dem Kopf voran in den Aasee drückt, zeigt die Widersprüche besonders gut. Der See in der Stadt gilt als wunderschön und im Münster-Souvenirshop wird sogar Schnaps unter dem Namen "Aaseeschlückchen" verkauft. Aber bei Wikipedia kann man nachlesen, dass die Wasserqualität im Sommer so schlecht ist, dass es bei Kontakt zu Ekzemen und bei Verschlucken zu tödlichen Krankheiten kommen kann. Denn der See ist voller Blaualgen.

In anderen Episoden Ihrer Fotoserie sitzt ein Burschenschafter vor dem Schloss und gibt sich einen Schuss, ein Pfarrer zerrt einen kleinen Jungen hinter sich her, ein Paar vergnügt sich auf dem Send, der Kirmes in Münster, und auf einem weiteren Bild pinkelt einer in den Hafen. Wie sind Sie auf diese Themen gekommen?

Hanno Endres: Alles beruht auf Fakten. Die realen Hintergründe haben wir aus Zeitungsschnipseln, von Wikipedia oder aus Behördenmitteilungen. Das dort Beschriebene haben wir lediglich satirisch visualisiert. Die Fotos sollten morbide aussehen, aber bei aller drastischen Inszenierung doch Ruhe ausstrahlen. Zudem bestehen die Fotos fast nur aus den Farben des münsterschen Stadtwappens oder Mischungen daraus, also aus Rot und Weiß und Gelb.

Wie waren die Reaktionen auf die Fotos?

Tilman Rademacher: Auf die Episode "Westfälischer Friede" gab es bislang die meisten und emotionalsten Reaktionen. Darauf küssen sich ein Fan von Preußen Münster und einer des VfL Osnabrück. Einer der beiden bin ich und ich war ein bisschen paranoid, weil es gerade bei Preußen Münster ein paar Ultras gibt, die einem leicht eins überziehen. Ein Fan hat sich tatsächlich beschwert, der empfand es als Sakrileg, dass wir sein heiliges Preußen da so in den Dreck ziehen, seiner Meinung nach.

Münster morbid (10 Bilder)

(Bild: Hanno Endres / MÜNSTER morbid)

Tabubruch: In der Episode "Westfälischer Friede" küssen sich ein Fan von Preußen Münster und einer des VfL Osnabrück.

(Bild: Hanno Endres)

Hanno Endres: Wobei der wahrscheinlich nicht "Sakrileg" gesagt hat.... Das Bild kam bei einem Osnabrücker Lokalsender in einem Beitrag zu "Homosexualität im Profisport" vor und wurde auf Facebook veröffentlicht. Da gab es die schönsten Reaktionen, angefangen von "Bohr echt eckelig!!!" über "das geht doch gar nicht" bis zu "Ihr seid krank. Nix gegen Homosexuelle, aber so was ist eine Demütigung für jeden VfL-Fan". Man merkt, damit haben wir ins Mark getroffen. Mein Lieblingskommentar war: "wer das bild gemacht hat, hat echt Lack gesoffen!". Solche Reaktionen lese ich lieber als "sind echt schöne Fotos".

Als Sie das Motiv "Vorsicht toter Winkel", bei dem ein Autofahrer auf einen Radfahrer zielt, geschossen haben, kam gleich die Polizei...

Hanno Endres: In den "Westfälischen Nachrichten" kann man regelmäßig von Schlägereien lesen, wenn ein Radfahrer einem Autofahrer die Vorfahrt genommen hat oder so was. Das wollten wir mit diesem Waffenfoto inszenieren. Wir waren gerade mit dem Shooting fertig, als zwei Polizeiautos mit vier hypernervösen Insassen angefahren kamen. Die Polizisten zielten auf uns, riefen spektakulär "Waffe aus der Hand, Hände aufs Autodach". Ein Passant hatte alles für echt gehalten und gemeldet. Ich habe eine Anzeige wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz und wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses bekommen. Das Verfahren wurde aber mittlerweile von der subkulturell verständnisvollen Münsteraner Staatsanwaltschaft eingestellt.

Die ersten zwölf Motive und der "Münster morbid"-Kalender sind fertig. Was kommt als nächstes? Die morbiden Seiten einer anderen Stadt?

Tilman Rademacher: Münster morbid funktioniert deswegen so gut, weil Münster sich so als besonders schöne und lebenswerte Stadt nach außen gibt – da fällt die Nestbeschmutzung besonders leicht. In Hagen oder Duisburg...

Hanno Endres: Und Dortmund. Sag bitte noch Dortmund.

Alle 12 Episoden von "Münster morbid" gibt es in einem Kalender.

(Bild: Hanno Endres)

Tilman Rademacher: Oder in Dortmund funktioniert es nicht so gut, weil es da zuviel tatsächliche finstere Ecken gibt. Aber wenn man hier auf der Insel der Seligen mit Schmutz wirft, hat das eine ganz andere Wirkung.

Hanno Endres: Wir planen eine zweite Staffel "Münster morbid" und dafür würden wir liebend gerne die Vorzeige-Münsteraner Götz Alsmann oder Quasi-Münsteraner wie das "Tatort"-Duo Axel Prahl und Jan Josef Liefers oder Oliver Korittke aus "Wilsberg" gewinnen.

Was macht Münster trotz allem so lebenswert, dass Sie noch nicht geflohen sind?

Tilmann Rademacher: Als Schauspieler schätze ich hier die kurzen Wege sehr, die Kontakte. Münster hat ein ziemlich gutes kulturelles Angebot, viele freie Theater. Und man kann hier mit dem Fahrrad innerhalb von zehn Minuten fast jeden Punkt der Stadt erreichen. Aber so schön es hier ist, es fällt einem doch schon manchmal die Decke auf den Kopf. Da war "Münster morbid" vielleicht so was wie ein Reinigungsprozess.

Hanno Endres: Als Fotograf schätze ich die kurzen Wege sehr... Nein, im Ernst. Ich hatte immer so eine Auswanderungsvision, dass ich dachte: Ich muss mal noch in Australien wohnen, weil da alles viel besser ist als hier und die Leute entspannter. Aber da hat Münster morbid mein Leben verändert, weil ich erkannt habe: Hier ist es genauso übel wie anderswo auch. Über die inszenierte Nestbeschmutzung habe ich das Gefühl, ich bin wieder angekommen in Münster.

Den Kalender mit allen 12 Episoden gibt es unter www.muenster-morbid.de. Die 12 Episoden gibt es zudem als hochwertige Editionsbilder (25 pro Motiv) bis 100 cm × 70 cm samt Zertifikat bei seen.by oder unlimitiert im Kleinformat mit 24 cm × 17 cm (http://www.seenby.de/hanno-endres).

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