Abschied vom Westen

Erwartungsgemäß ist der Weltuntergang vor einer Woche ausgefallen. Wer nun schadenfroh über den geballten Unsinn von Esoterikern lacht, sollte dennoch auf der Hut sein – und den Report "Global Trends 2030" des National Intelligence Council lesen.

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Von
  • Niels Boeing

Erwartungsgemäß ist der Weltuntergang vor einer Woche ausgefallen. Wer nun schadenfroh über den geballten Unsinn von Esoterikern lacht, sollte dennoch auf der Hut sein – und den Report "Global Trends 2030" des National Intelligence Council lesen.

"Der Machtgewinn von Individuen und die Auflösung von Macht zwischen Staaten und von Staaten hin zu informellen Netzwerken wird drastische Auswirkungen haben, wird insgesamt den historischen Aufstieg des Westens seit 1750 rückgängig machen", schreibt der amerikanische National Intelligence Council (NIC) in seinem kürzlich erschienenen Report "Global Trends 2030: Alternative Worlds". Es ist bereits der fünfte Bericht des Thinktanks, der für die 16 US-Geheimdienste mittel- bis langfristige Strategiestudien erstellt. In vier ausgewählten Szenarien versucht der NIC erneut, plausible Entwicklungen für die kommenden zwei Jahrzehnte herauszuarbeiten.

Hatte bereits der Vorgängerreport vor vier Jahren erstmals das Ende der US-Dominanz in der Weltpolitik für möglich gehalten, so sind sich die NIC-Analysten jetzt sicher: Die "Pax Americana" ist in jedem Szenario vorbei. Der neuen Weltordnung, die in den kommenden Jahren entsteht, werden die USA ihren Stempel nicht mehr alleine aufdrücken können – weder militärisch noch wirtschaftlich. China wird 2030 auch ein geopolitischer Riese sein, dessen Schatten überall hin fällt. Zusammen mit Europa und Japan werden die USA dann nur noch ein Viertel der Weltwirtschaftsleistung erbringen, gegenüber 56 Prozent heute. Was Chruschtschow 1958 vergeblich hoffte, nämlich dass man den Westen ökonomisch überhole, könnte China, Indien, Brasilien und anderen wirtschaftlich aufstrebenden Nationen zusammen gelingen.

Für die NIC-Analysten ist diese Entwicklung eine von sieben tektonischen Verschiebungen, die nur zum Teil in älteren Reports auftauchten. Des weiteren wird die "globale Mittelschicht" mächtig wachsen und mit ihr auch der Konsum; Präzisions-, Cyber und Biowaffen werden auch kleinen, nicht-staatlichen Gruppen, gar Einzelpersonen zur Verfügung stehen; Europa und Japan werden aufgrund ihrer Überalterung zu wenig Arbeitskräfte haben; rund 60 Prozent der Menschheit werden in Städten leben (heute sind es 50 Prozent); und der Bedarf an Lebensmitteln wird sich um 35 Prozent, der an Trinkwasser sogar um 40 Prozent erhöhen, während die Hälfte der Weltbevölkerung unter Wassermangel leiden wird.

Erstaunlich ist indes die siebte Verschiebung, die der NIC ausgemacht hat: Der Schiefergas-Boom der letzten Jahre könnte nicht nur dazu führen, die USA bei fossilen Energieträgern unabhängig vom Öl zu machen. Er könnte sogar die OPEC-Länder empfindlich schwächen, weil die mangelnde US-Nachfrage den Ölpreis einbrechen lässt. Anders gesagt: Die amerikanische Energiewende wird in den Augen des NIC eine fossile sein, in der die Solarenergie nur eine Nebenrolle spielt. Im 2025-Report war Erdgas noch eine Option unter mehreren gewesen, während der Klimawandel – wohl auch unter dem Eindruck des 2007 veröffentlichten IPCC-Berichts – den Ausblick deutlich prägte. So zerstörte in einem der vorigen Szenarios ein Hurrikan New York. Im neuen Report hingegen ist der Klimawandel eher als eine von mehreren Randbedingungen gesetzt, der etwa neue Handelsrouten durch das Nordmeer und Rohstoffabbau in der Arktis eröffnet.

Nun betonen auch die NIC-Analysten, dass eine seriöse Zukunftsuntersuchung heute nicht einfach nur Trends extrapolieren kann. Zu oft ist der Lauf der Geschichte von außerordentlichen Vorkommnissen, so genannten Schwarzen Schwänen, verändert worden. Hitler etwa wäre Anfang der 1920er ein Schwarzer Schwan par excellence gewesen. Verglichen damit fallen die Schwarzen Schwäne des NIC-Reports erwartbarer aus: eine globale Grippe-Epidemie; ein Auseinanderbrechen der Eurozone; ein China, das sich entweder demokratisiert oder wirtschaftlich zusammenbricht; ein Ende der Islamischen Republik im Iran; ein Atomwaffen-Einsatz in einem regionalen Konflikt; oder ein neue isolationistische Epoche in den USA, die den Rest der Welt sich selbst überlassen. Dass Aliens die Erde besuchen könnten, will der NIC natürlich nicht einkalkulieren. Eine Bedrohung aus dem Weltraum sieht er dennoch: Außergewöhnlich starke geomagnetische Stürme, ausgelöst durch enorme Sonneneruptionen, könnten der elektrifizierten und vernetzten Weltgesellschaft von heute heftig zusetzen – anders als 1859, als nur einige Telegraphenleitungen durchbrannten.

Die Kunst des Szenarios besteht darin, aus all den großen Trends der Gegenwart und unwahrscheinlichen Ereignissen auszuwählen und daraus eine plausible Entwicklung formulieren. Der NIC hat sich für vier entschieden: globalen Stillstand ("Stalled Engines"), globalen Aufschwung ("Fusion"), globalen Klassenkampf ("Gini Out-Of-The-Bottle") und globales Durcheinander ("Nonstate World").

In "Stalled Engines" kommt es dicke. Die Franzosen lehnen in einem Referendum einen neuen EU-Vertrag ab und kippen damit die Europäische Union. Im Nahen Osten kommt es zu einer Art innerislamischem Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten, in dem plötzlich der Iran und Saudi-Arabien direkt gegeneinander stehen, doch die USA haben die Lust an Interventionen längst verloren. Ihre Energiewende mittels Erdgas wird von Prozessfluten gegen die Umweltfolgen des Fracking abgewürgt. Schließlich kommt es zu einer globalen Epidemie, die großen Wirtschaftsmächte schotten sich ab, der Welthandel kommt zeitweilig zum Erliegen. Im globalen Süden sterben zig Millionen Menschen. "In diesem Szenario sinken alle Boote", schreiben die NIC-Autoren, die "Stalled Engines" als glaubhaftestes Worst-Case-Szenario sehen.

Der Best Case mit der höchsten Plausibilität ist für sie das "Fusion"-Szenario. Die Trendwende nach weiteren, langen Krisenjahren kommt um 2020. China und die USA ringen sich zu einer gemeinsamen Rolle als diplomatischer Oberaufseher durch, um einen Krieg zwischen Indien und Pakistan abzuwenden. Neue internationale Regeln für den Austausch von Knowhow und die Achtung geistigen Eigentums machen die 2020er Jahre zu einem Jahrzehnt der technischen Innovationen, von denen auch Schwellen- und Entwicklungsländer profitieren. Ja, die Weltgemeinschaft kann sich gar zu gemeinsamem Handeln durchringen, um saubere Energien und Ressourceneffizienz zu fördern. Unter Führung Brasiliens ernährt eine zweite "Grüne Revolution" in der Landwirtschaft Milliarden von Menschen. "Der Amerikanische Traum ist wieder zurück", frohlocken die NIC-Autoren.

Zwischen diesen Extremen sind die beiden anderen Szenarien angesiedelt. In "Gini Out-Of-The-Bottle" fehlen zwar Pandemie und militärische Großkonflikte. Die Einkommensschere zwischen Arm und Reich – statistisch im so genannten Gini-Koeffizienten gemessen – klafft jedoch in immer mehr Länder immer weiter auf, die EU zerbricht daran schließlich. Die Lehren von Marx und Mao feiern weltweit ein Comeback, Straßenschlachten und Cybersabotage sind an der Tagesordnung, der Klassenkampf globalisiert sich. Die internationalen Eliten schicken sich an, das Internet strikt zu regulieren, um ihre letzten Pfründe zu verteidigen. Einzig die US-Energiewende gelingt, trägt aber mit zur globalen Unruhe bei, weil die OPEC-Länder in die Rezession rutschen.

Auch in der "Nonstate World" geht es drunter und drüber: Das Westfälische Staatensystem, das aus dem Dreißigjährigen Krieg hervorging, zerfällt. Was sich in den ergebnislosen Klimakonferenzen und Welthandelsrunden von heute andeutet, verselbständigt sich: Die Nationalstaaten verlieren ihre Autorität, in Afrika spalten sich immer mehr Staaten nach dem Vorbild des Südsudan und Eritreas ab. Aber es geht auch vorwärts. Denn nun nehmen nichtstaatliche Organisationen, soziale Netzwerke und Millionenstädte die drängenden Probleme – Ernährungssicherheit, Wasserversorgung, saubere Energien – selbst in die Hand. Die Kehrseite ist indes, dass auch Mafia-Organisationen und Drogenkartelle als globale Player stärker mitmischen als je zuvor. Dennoch beurteilen die NIC-Autoren das Szenario verhalten positiv: "Diese Welt ist stabiler und hat einen größeren sozialen Zusammenhalt." Die Möglichkeit einer solchen "Nonstate World" ist vielleicht der größte Bruch mit den bisherigen Szenarien der Global-Trends-Reports, weil sich hier Umrisse einer Weltordnung abzeichnen, die anders strukturiert ist als sämtliche Epochen der letzten 300 Jahre.

Auch in einem anderen Punkt unterscheidet sich der neue Report von seinen Vorgängern markant: Neue Technologien werden erstmals als potenzieller "Game Changer" analysiert. Dass hierbei Big Data und personalisierte Medizin, Robotik und Biokraftstoffe, gentechnisch veränderte Pflanzen und vernetzte Infrastrukturen auftauchen, ist wenig überraschend. Eher schon, dass die Autoren, wohl unter dem Eindruck des Arabischen Frühlings 2011, sozialen Netzwerken eine wichtige Rolle für die politischen Veränderungen der kommenden Jahre zutrauen.

Dass der Report das so genannte Additive Manufacturing, vulgo: 3D-Printing, hervorhebt, ist allerdings erstaunlich. Noch vor zwei Jahren galten entsprechende Verfahren als Nischentechnologien. Bald könnten sie die industrielle Produktion flexibler und schneller machen, glauben die NIC-Analysten. Nur eines glauben sie offenbar nicht: dass irgendeine Technologie, an der jetzt noch in Laboren herumgetüftelt wird, das Zeug zum Schwarzen Schwan hat. Nicht einmal der Quantencomputer: Der könnte bestenfalls kurz vor 2030 ausgereift genug sein, um Big Data einen Leistungssprung verpassen.

Es ist klar, dass der Trend-Report durch eine US-Brille auf die Welt von morgen blickt. Doch anders als zuvor haben die NIC-Analysten die Rohversionen ihrer Szenarien diesmal Experten in 20 Ländern vorgestellt. Die werteten die Entwürfe häufig gar als zu optimistisch. Ein Ende der Krise scheinen die wenigsten zu sehen, eher ein Bündel von Krisen, die sich noch verschärfen könnten. Vielleicht wird man sich eines Tages doch noch den weisen Alien als Schwarzen Schwan wünschen, der die Menschheit zur Vernunft bringt.

Der National Intelligence Council hat den Expertenblog gt2030.com eingerichtet, auf dem die Grundannahmen des Reports diskutiert wurden. (nbo)