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Was war. Was wird. Die Jahresendedition

Das Internet vertändelt sich in Sackgassen, während das neue Jahr bald sein rosiges Haupt erhebt. Hal Faber zweifelt aber doch sehr daran, ob zwischen Geschichtsfarce und Spökenkiekerei die Zukunft zu erkennen ist.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich - und zum Jahresende dann doch mehr Rück- als Vorschau.

Was war.

*** Das wars! Das Jahr 2012 schleicht sich kraftlos zum Emir und dankt ab. Zum Austrudeln gibt es zahllose Rückblicke, etwa zur Netzpolitik oder zur Problematik von Sackgassen auf Wikipedia, mit angezweifelten 10 Millionen Abrufen. Es mag ja Schwachsinn sein, aber die Vorstellung, dass Deutsche wissen wollen, was eine Sackgasse ist, hat etwas für sich. Schließlich leben wir in einer solchen. Wir werden einen Kollaps erleben, denn umdenken ist viel zu unbequem. Die bittere Empfehlung von Club of Rome-Vertretern, Kindern in Zukunft lieber Computerspiele zu schenken, als sie mit in die Natur zu nehmen, ist immerhin konsequent: Auf diese Weise leiden sie weniger unter dem Tempo, in dem die Natur verschwindet.

*** Genug genölt, Geschichte wird gemacht! Natürlich muss auch diese kleine Wochenschau klickstreckenfreundlichst zurückblicken und wie Googles Zeitgeist in den Zahlenbergen wüten, die Leser so hinterlassen, wenn sie den Newsticker von Heise besuchen. In den Seitenaufrufen liegt nicht nur bei Telepolis die Wahrheit. Sie ist mitunter bitter, für angehende wie ausgehende Politiker vom Schlage eines Georg Schramm. Die Piratin Julia Schramm (614.464) zählte mit ihrem Buch zu den Aufmerksamkeitsgewinnerinnen des Newstickers, vor dem CDU-Mann Ansgar Heveling (472.464) und seiner Kampfansage an die Netzgemeinde. Knapp dahinter: Die Klage von Expräsidenten-Gattin Bettina Wulff gegen Google (461.937), belästigt durch unausrottbare Rotlicht-Gerüchte. Das alles verblasst natürlich vor der Top-Meldung des Jahres 2012 von der Razzia bei Megaupload und der Verhaftung von Kim Schmitz. Mister Dotcom reihte sich mit 1.521.156 Seitenaufrufen prompt unter die "ewigen" Top-Ten der Tickerstatistik ein, freilich klar entfernt von den Werten der Meldungen über den Anwalt von Gravenreuth. Zwei weitere Meldungen zu Megaupload kamen über die Millionengrenze, knapp darüber schaffte es die Meldung von der Panik der Sharehoster.

*** Addiert man alle Berichte zu Megaupload, so gehören die Berichte zu den Top-Themen des Jahres, die Heise-Leser interessierten. Überholt wurde es nur von den zahlreichen Berichten über Windows 8, die jeweils über 500.000 Abrufe hatten. Damit lieferte wieder einmal Microsoft das Thema Nummer 1. Auf den dritten Platz kam die Fehde zwischen Samsung und Apple, gefolgt von einem Dauerbrenner, der Diskussion über den Fachkräftemangel. Das meistdiskutierte Thema des Jahres 2012 war, gemessen an den Forumsbeiträgen, wiederum ein anderes: Die Kampagne Mein K©pf gehört mir produzierte nicht nur seltsame Aufrufe und Gegenaufrufe, sondern provozierte offenbar viele Leser, sich Gedanken über das veraltete deutsche Urheberrecht zu machen. An zweiter Stelle findet sich ein Unbekannter, ein Konstanzer Lehrling, dem eine (abgesagte) Facebook-Party zum Verhängnis wurde. Auf den dritten Platz in den Debatten schob sich die sogenannte GEMA-Vermutung.

*** Da 2013 ein Wahljahr sein wird, ist ein Blick auf die deutsche Parteienlandschaft im Filter der Heise-Leser ganz aufschlussreich. Eindeutiger Sieger ist hier die Piratenpartei, bei der es fast alle Meldungen schafften, in die Top 100 zu gelangen. Ebenso eindeutiger Verlierer ist die FDP, die ein Jahr zuvor mit ihrer Haltung zur Vorratsdatenspeicherung punkten konnte. Wenn Meldungen mit liberalen Inhalten das Interesse der Leser weckten, so waren es die europäischen Liberalen mit ihrem Nein zu ACTA. Allerdings sei angemerkt, dass die Zurodnung von Parteien und Meldungen methodologisch auf wackeligen Beinen steht: eine der Piratenpartei zugeordnete Top 100-Meldung von einer deutschen Traumkoalition könnte ebenso der FDP oder den Grünen zugeordnet werden. So oder so, die Spannung bleibt uns erhalten, ob die Tickermeldung zur Bundestagswahl 2013 diese Meldung über die schwarz-gelbe Koalition aus den Charts werfen kann, die 2009 1,5 Millionen Abrufe verzeichnete.

*** Abseits der IT-Meldungen und den Berichten von netzpolitischen Themen war 2012 das Jahr, in dem die Raumfahrt mehrfach in den Charts aufauchte: Voyager erreichte den interstellaren Raum und Curiosity erweckte gleich mehrmals die Neugier der Heise-Leser. Selbst die Meldung über den Tod von Armstrong schaffte es in die Top 100, zusammen mit den Debatten zum großen Mondlandungs-Fake. Ebenso angeregt wurde um ein neues Elementarteilchen diskutiert: Wir mögen zwar in einer Sackgasse stecken, aber vielleicht faltet sich ja die eine oder andere Dimension mit überraschenden Lösungen auf. Wer weiß schon, ob unsere Sackgasse nicht in Wirklichkeit eine Hyperraum-Umgehungsstraße ist?

*** Genug gezählt und gemessen. Das wertvollste an all den Zahlen sind nicht die Zahlen, sondern die Leser, die hinter den Zahlen stehen. Die unverzagt den unscheinbaren Button klicken, über den newstips@heise.de abgesetzt werden. Aktuell findet in Hamburg der Jahreskongress des Chaos Computer Clubs statt, in der Weite eines Kongresszentrums, das endlich wieder Raum zum Leben und Arbeiten lässt. Das passt prima zur Wochenschau, schließlich ist Kim Schmitz einer von nur drei Menschen, die im Laufe vieler Kongresse vom CCC vor die Tür gesetzt wurden (ein vierter wurde dieses Jahr vor der Tür abgefangen). Das Kongress-Motto "Not my department" ist in den USA eine gängige Floskel, die prägnant im Film Casablance zu hören ist: "The problems of the world are not in my department". Auf dem Kongress ist das Motto etwas anders gemeint: Die Probleme dieser Welt sind offenbar die Probleme des CCC geworden, der auf allen möglichen Ebenen aktiv ist und sich sofort eine satte Feminismus-Debatte wegen ein paar idiotischer Kärtchen und arroganter Nerds leistet. Noch ein Problem-Departement mehr, weil gleich die ganze Informatik weiblicher werden soll. Zur Unterhaltung gibt es Frauenwitze und Quizze mit nerdigen Fragen, Gelächter und viel Beifall: "Wer hat den kategorischen Imperativ verbrochen?" Natürlich ist es dem typischen Hacker lästig, so eine philosophische Maxime wirklich zu beachten. Im Zweifelsfall gilt schließlich allen Aufrufen zum Widerstand zum Trotz, dass Moral nicht kompiliert werden kann. Gern erinnert sich der IT-Chef von Gamma International an all die tollen CCC-Kongresse, die er besuchte.

Was wird.

Moral? Ach was, geht mir weg mit Moral. Wer immer noch glaubt, das Netz und seine Politik seinen an und für sich eine moralische Angelegenheit, der glaubt auch an Prognosen von Marktforschern. Hm. Natürlich wird Windows Phone im Jahr 2013 das führende Smartphone-Betriebssystem. Oder auch nicht. Google Glasses wird uns die Augen öffnen für die Schönheit der virtuellen Welt inmitten der realen.
Oder auch nicht. Und wieder einmal ist das Jahr des Linux-Desktops. Oder auch nicht. Und Apple geht unter. Oder auch nicht. Die NSA mit ihrem Superrechenzentrum überwacht uns alle und entschlüsselt alles. Oder auch nicht. Die Informationsfreiheit wird kommen und Deutschland verabschiedet Gesetze gegen die Korruption. Oder auch nicht. Und das Internet wird alle Unterdrückten befreien. Oder auch nicht. Und die Piratenpartei stellt nach der Bundestagswahl den Bundeskanzler. Oder auch nicht. Wir werden alle sterben. Oder auch nicht. Obwohl – das wohl doch, langfristig gesehen: "Auf lange Sicht sind wir alle tot", wie der gute Keynes den Ökonomen ins Stammbuch schrieb, die allzu gerne den Markt als langfristigen Ausgleichsmechanismus vor sich hertragen und zur Ideologie machen. So ist das eben mit seltsamen Prognostikern, die sich den Anschein der Wissenschaftlichkeit geben und doch nur das Hantieren mit Zahlen zur Kaschierung ihrer Spökenkiekerei nutzen – ob sie nun Ökonomen oder Marktforscher oder IT-Experten genannt werden. Was wird also? Keine Ahnung. Als ob ich die Antwort auf die Frage aller Fragen, nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest wüsste. Die Antwort zu haben, die Unverfrorenheit haben nur die Berater, die mit irrem Blick durch die Firmen laufen und "Unsicherheit als Geschäftsmodell" verkaufen. Die IT-Branche, die Netzpolitiker und alle unsere Internetvesteher werden schon für Unterhaltung sorgen – manchmal gute, manchmal schlechte, sie werden Geschichte schreiben und Geschichte wiederholen, natürlich als Farce, was auch sonst. Ich bleibe also gespannt. Und werd's weitererzählen, was so passiert, begleitet von tollen Kommentatoren. Nicht zu vergessen all die, die das WWWW grottenschlecht finden, langweilig oder miesepetrig. Die Zukunft ist alternativlos. In diesem Sinne: Ein wirklich glückliches und friedliches 2013. Musik! (jk)