Verriss des Monats: Schau mir in die Poren, Kleines

Digitaler Pickelalarm, oder: Wie man eine wahr gewordene Orwell-Fantasie in ein wonniges Selftracking-Erlebnis verwandelt.

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Von
  • Peter Glaser

Digitaler Pickelalarm, oder: Wie man eine wahr gewordene Orwell-Fantasie in ein wonniges Selftracking-Erlebnis verwandelt.

Die Kunst des gepflegten Verreißens zweifelhafter Produkte ist ein wenig aus der Mode gekommen. An dieser Stelle präsentiert unser Kolumnist Peter Glaser einmal im Monat deshalb eine Rezension der etwas anderen Art: den Verriss des Monats. Vorschläge für besonders zu würdigende Produkte werden gerne per Mail entgegengenommen.

Das menschliche Gesicht ist nicht nur der heilige Gral der Computergrafiker. Von den 650 Körpermuskeln befinden sich mehr als 50 im Gesicht, wo sie durch ihr komplexes Zusammenspiel für eine bemerkenswerte Ausdrucksvielfalt sorgen und Animatoren damit in den Wahnsinn treiben. Da Hard- und Software spürbare Fortschritte gemacht haben, ist das Gesicht inzwischen auch zum wichtigsten Merkmal automatischer Personenerkennung geworden. Was für die Freunde der Massen-Verarbeitung bei Sicherheitsbehörden oder im Marketing nach traumhaften neuen Möglichkeiten klingt, hört sich für die Person auf der Straße eher nach einem Alptraum an – von Maschinen in der Öffentlichkeit überwacht zu werden wie eine Kuh in einer Herde, in der jede ein unsichtbares GPS-Halsband trägt.

Werbeplakate mit Kameraaugen können bereits zwischen Männern und Frauen unterscheiden, Alter und Geschlecht erkennen und sehen, ob Passanten gerade auf das Plakat schauen oder nicht. (Die Einschätzung von Konsumvorlieben und sozialem Status durch die automatische Erkennung von Kleidungsdetails ist in Arbeit.) Displays werden in Zukunft maßgeschneidert auf die Menschen reagieren, die vor einem Schaufenster stehen oder durch ein Warenhaus gehen. Fotoapparate erkennen lächelnde Gesichter. Amerikanische und australische Polizisten setzen seit längerem Gesichtserkennungstechnologie ein, um Straftäter zu identifizieren. Die automatische Gesichtserkennung, die Facebook im Sommer 2011 von der Kette ließ, wurde nach einem formidablen Aufschrei drei Monate später wieder deaktiviert, jedenfalls in Europa.

Dem kontroversen Thema nähern sich nun die beiden japanischen Firmen Sony und Fujitsu mit einem variiert umgesetzten, bemerkenswerten Konzept, das auf eine menschliche Schwäche setzt: Eitelkeit. Das "Smart Skin Evaluation Program" (SSKEP) von Sony soll Gesichter in einer sozusagen vorausschauenden Detailtiefe erkennen. Konkret: es ortet Hautunreinheiten, die gerade im Begriff sind, sich zu hässlichen Pickeln zu entwickeln – und zwar, noch ehe das menschliche Auge sie sehen kann. Neue CMOS-Sensoren, die auch Infrarotlicht erfassen, können anhand unterschiedlich reflektierter Lichtbereiche beispielsweise Veränderungen an Poren bereits erkennen, noch ehe der Inhaber der Haut etwas davon mitbekommt. Eine digitale Auswertung der stillen Sondierung führt den Begriff Gesichtserkennung in ganz neue Tiefen. So lassen sich etwa die entsprechenden Zonen automatisch auf dem fotografierten Gesicht markieren, wodurch es sich in eine Art Pickel-Wetterkarte verwandelt.

Bei Fujitsu ist die Sache bereits bedeutend praxisorientierter. Eine "neue, Cloud-basierte Software für Smartphones [respektive für Frauen], die Dir dabei hilft, Deinen Hauttonus immer im Blick zu behalten" hat den Namen "Hada Memori" ("Gedächtnis der Haut") erhalten und gibt einem nun die Mittel für intimes Selbsttracking in die Hand. Um die Software nicht durch Lichtveränderungen oder Entfernungswechsel ins Schleudern zu bringen, fertigt man als erstes ein Kalibrierungsfoto seines Gesichts an und schickt anschließend, um die Gesichtshaut über einen längeren Zeitraum beobachten zu lassen, regelmäßig Antlitzaufnahmen an das Online-Portal des Anbieters.

Bei Gefahr in Verzug (Pickelalarm!) kann man dort praktischerweise auch gleich verschiedene Cremes gegen Hautunreinheiten kaufen. Und Hada Memori verfolgt nicht nur die Evolution verdächtiger mikrolokalisierter Pigmentierungen und Rötungen. Die Software kann die Hautdaten auch an Kosmetikspezialisten und Ärzte schicken, die einem helfen sollen, alle potenziellen Porenprobleme in den Griff zu kriegen – "und Frauen dazu anzuhalten, besser auf ihre Haut zu achten". Klingt doch nach reinem Vergnügen, oder? Das Ganze erinnert an eine profane Hightech-Version des Spiegleins an der Wand aus dem Märchen. Jede darf nun ihre eigene böse Königin sein. Und wenn man dazu noch Zwerge braucht, erzeugt man sie heute mit einer einfachen Schrumpfgeste.

Mit Dank an Arnd Brand für den Sony-Vorschlag. ()