Die Mutter der modernen Faulheit

Leibliche Genüsse und Technik scheinen sich auf unbezähmbare Weise anzuziehen. Was auf den ersten Blick aussieht wie kleine Bequemlichkeiten, führt im digitalen Zeitalter zu weltverwandelnden Innovationen.

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Von
  • Peter Glaser

Leibliche Genüsse und Technik scheinen sich auf unbezähmbare Weise anzuziehen. Was auf den ersten Blick aussieht wie kleine Bequemlichkeiten, führt im digitalen Zeitalter zu weltverwandelnden Innovationen.

Für meine Kontakte in sozialen Netzen wie Facebook oder Google+ habe ich jetzt jeweils eine neue Liste, in der ich bestimmte Menschen versammele. Sie heißt "Leute, die ihr Essen NICHT fotografieren". Im Netz grassiert das Essenfotografieren. Was auf dem Tisch vor einem steht, wird mit dem Smartphone aufgenommen und, quasi als digitale Variante der Mehrung des Brotes, umgehend an das persönliche Publikum weiterverteilt. Das ist ein bisschen nervtötend, denn weder Bratwurst noch Lachs-Consommé lassen sich digital in genießbarer Form übertragen.

Sogar wenn die Essenfotos einem Appetit machen würden, was sie nur selten tun – man kann das Gezeigte nicht essen. Speis und Trank gehören zu einer seltener werdenden Gattung: Es sind undigitalisierbare Dinge. Zugleich haben diese Essenfotos etwas anrührend Persönliches und Privates. Das hat damit zu tun, dass in der Technikgeschichte eine interessante Lücke klafft.

Marshall McLuhan folgend kann man Technik als eine Ausweitung der menschlichen Sinne betrachten, das Telefon etwa als eine Erweiterung der Stimme, die Kamera als eine Erweiterung des Auges, et cetera. Dabei fällt auf, dass es fast immer die Distanzsinne sind – Sehen, Hören, Rufen, dann noch Werfen, Laufen – die sich in technische Geräte fortentwickelt haben, welche uns helfen, Distanzen zu überbrücken. Die körpernahen sogenannten Intimsinne Riechen, Schmecken und Tasten sind technologische Mauerblümchen. Dass es daran mangelt, spürt man an dieser Flut von Essenfotos.

Zugleich ist da natürlich der gastfreundliche Hintergedanke: Sieh mal, ich bringe dir etwas zu essen. Es ist das ganz große Geschenk, das wir uns mit dem Internet machen: Bequemlichkeit in immer neuen, ungeahnten Folgen. Das Netz ist inzwischen die größte Faulheit produzierende Maschine der Welt. Und mit den Dingen, die das Leben so convenient machen, lässt sich nicht nur Geld verdienen.

Oft entstehen aus purer Faulheit geradezu geniale Projekte, deren Verwirklichung einiges an Arbeit erfordert – aber wirklich faule Menschen sind extrem fleißig, weil sie möglichst bald wieder faul sein wollen. Der alte Cola-Automat an der Carnegie Mellon-Universität in Pittsburgh war so etwas wie die Mutter der Netzbequemlichkeit. Seit den 70er Jahren hatte es in der Abteilung für Informatik diesen Limonadenspender gegeben, in dem die Getränke ein paar Cent billiger waren als anderswo auf dem Campus.

Da echte Programmierer ohne Koffein nicht funktionieren, war der Automat ziemlich beliebt. In unregelmäßigen Abständen wurde er von Studenten nachgefüllt. Mitte der 70er Jahre wurde die Informatik-Abteilung erweitert und etliche Büros an Orte verlegt, die weit von dem Raum entfernt waren, in dem der Automat stand. Es war frustrierend, drei Stockwerke runterzulaufen, bloß um zu sehen, dass die Maschine leer war oder man für sein Geld nur eine warme Cola bekam. Im Jahr 1982 beschlossen die Studenten Mike Kazar, David Nichols, John Zsarnay und Ivor Durham, diesem Zustand mit modernsten Mitteln ein Ende zu bereiten. Sie installierten Sensoren in den sechs Automatenschächten und verkabelten sie mit dem Hauptrechner der Abteilung.

Einer der Jungs schrieb ein kleines Programm, das anzeigte, wie viele Flaschen Cola in jedem der Schächte lagen, und wie lange sie schon drin waren (das heißt, ob sie auch schon kalt genug waren). Das Programm benutzte für die Abfrage das Internet-Protokoll – und als das Netz Mitte der 90er Jahre seinen großen Auftritt in der Öffentlichkeit hatte, begannen User aus aller Welt, den Füllstand des Cola-Automaten in Pittsburgh abzufragen.

Sein Ende kam mit der Einführung der neuen Plastikflaschen, mit denen die alte Maschine nicht mehr umgehen konnte. Sie wurde durch einen neuen Getränkeautomaten ersetzt. Die Cola-Liebhaber an der Universität hat das so verstimmt, dass sich bis heute keiner dazu durchringen konnte, auch den neuen Automaten ans Internet anzuschließen. (bsc)