Die Rückkehr der Grundstoffindustrie

Der Schiefergas-Boom in den USA lockt Chemiekonzerne zurück ins Land, die den billigen Energieträger als Ausgangsprodukt nutzen wollen.

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Von
  • Kevin Bullis

Der Schiefergas-Boom in den USA lockt Chemiekonzerne zurück ins Land, die den billigen Energieträger als Ausgangsprodukt nutzen wollen.

Wirtschaftsexperten, die den USA eine industrielle Renaissance vorhersagen, stellen sich üblicherweise Fabriken voller Roboter oder zumindest Anlagen zur Herstellung grüner Technologien wie Windturbinen oder Solarzellen vor. Doch die echte nächste Revolution für den Produktionsstandort Amerika könnte viel banaler sein: Grundstoffe für Kunststoffflaschen oder Plastiktüten. Der ständig fallende Preis für Erdgas soll wichtige Player aus der Chemieindustrie zurück ins Land locken. Noch vor fünf Jahren waren die Rohstoffpreise so hoch, dass die Konzerne ihre US-Standorte reihenweise schlossen.

Die Möglichkeit, Erdgas, das in Schieferformationen lagert, mit – durchaus umstrittenen – Methoden wie dem Hydraulic Fracturing zu fördern, hat dem Land ein Überangebot dieses Energieträgers beschert. Die US-Erdgaspreise liegen mittlerweile bei einem Bruchteil dessen, was in anderen Ländern gezahlt wird.

In den letzten 18 Monaten hat diese Marktentwicklung dazu geführt, dass Konzerne über die Errichtung neuer Großanlagen nachdenken. Chemiefabriken könnten aus Schiefergas Ethen erzeugen, Ammoniak für Dünger und sogar Dieseltreibstoffe. Dow Chemical will insgesamt vier Milliarden Dollar in die Hand nehmen, um seine US-Chemieproduktion anzukurbeln – inklusive einer komplett neuen Fabrik in Freeport, Texas. Ab 2017 soll dort aus dem Ethan in den Erdgasquellen Ethen gewonnen werden. (Die letzte derartige Fabrik in den USA wurde 2001 fertiggestellt.)

Die Renaissance der US-Chemieriesen ist im 148 Milliarden Dollar schweren Ethen-Markt bereits deutlich zu spüren. Ethen ist die meistproduzierte organische Grundchemikalie der Welt und Grundlage vieler anderer Industrien. Es wird zu Flaschen, Spielzeugen, Kleidungsstücken, Fenstern, Röhren, Teppichen, Reifen und vielen anderen Produkten. Da Ethen sich nur teuer über größere Distanzen transportieren lässt, ist eine neue Produktionsanlage typischerweise in die Herstellung des gewünschten End- oder zumindest Vorproduktes integriert, sei es nun Polyethylen für Plastiktüten oder Glykol für Frostschutzmittel.

In den USA kostet es derzeit nur noch 300 Dollar, um eine Tonne Ethen herzustellen – vor einigen Jahren waren es noch 1000. Laut einer Analyse von PricewaterhouseCoopers werden in Asien, wo die Anlagen mit teurem Öl laufen statt mit Erdgas, 1717 Dollar fällig. In Saudi-Arabien wird immer noch für 455 Dollar pro Tonne Ethen aus Ethan und Butan hergestellt. (Ethen-Fabriken werden derzeit auch in Qatar aufgebaut, wo Erdgas ebenfalls billig ist.)

In den letzten zwei Jahren haben die US-Hersteller Pläne vorgestellt, bis 2019 eine Kapazität von 10 Millionen Tonnen Ethen zusätzlich aufzubauen. Die entspricht einem zehnprozentigen Anstieg der globalen Ethenproduktion und stellt ungefähr die Hälfte der weltweit geplanten Kapazitätserweiterungen dar.

Die Auswirkungen des billigen Erdgases auf die Industrieproduktion könnten auch über die Chemie hinausgehen. So setzen energieintensive Produktionszweige wie die Stahlindustrie zunehmend auf den Energieträger. Im Verkehrsbereich steigen in den USA erste Firmen für ihre Lkw-Flotte auf Erdgas um. Alternativ kann auch einfach Erdgas zur Dieselproduktion verwendet werden: Die südafrikanische Firma Sasol plant in Louisiana eine 14 Milliarden Dollar teure Anlage. Das könnte die Spritpreise auch für konventionelle Fahrzeuge drücken.

Billigere Chemikalien, billigerer Stahl und billigere Logistik könnten den USA in den nächsten Jahren eine industrielle Renaissance bescheren, hoffen Ökonomen. Michael Levi, Senior Fellow beim Council on Foreign Relations, meint, dass die Energiekosten derzeit in vielen Industriebereichen die Schwelle von fünf Prozent nicht übersteigen. Wo billige Energie am meisten zählt, dürften existierende Fabriken aber in den USA bleiben, glaubt er "Günstiges Erdgas hält eher bestehende Unternehmen bei uns, als neue Standorte zu schaffen."

Wie lange die Erdgas-Konjunktur anhält, ist allerdings völlig unklar. Damit sich die Großinvestitionen rechnen, müssten die Ölpreise auf Jahre hoch und die Gaspreise auf Jahre niedrig bleiben, sagen Analysten. Das bedeutet, dass die Chemiehersteller ihre Pläne doch noch ändern könnten. Beispielsweise plant Sasol noch vor dem Spatenstich im Jahr 2014, die Wirtschaftlichkeit seiner geplanten milliardenteuren Erdgas-Diesel-Anlage zu überprüfen. (bsc)