Schere im Kopf

Das Beispiel China zeigt: Eine lückenlose Zensur des Internets ist gar nicht nötig. Es reicht, die menschliche Bequemlichkeit zu nutzen.

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Das Beispiel China zeigt: Eine lückenlose Zensur des Internets ist gar nicht nötig. Es reicht, die menschliche Bequemlichkeit zu nutzen.

Liest eigentlich noch jemand Newsletter? In Zeiten von Twitter, Facebook, Pulse und Google Currents, sind die zwar hoffnungslos altmodisch. Aber sie bieten die Möglichkeit, ab und an mal aufzuholen, wenn man im ständigen Strom von News und Gerüchten mal wieder den Anschluss verloren hat.

In der neusten Ausgabe von Crypto Gram, dem Newsletter von IT-Sicherheitsguru Bruce Schneier beispielsweise bin ich auf eine interessante Geschichte gestoßen, die ich bislang völlig übersehen hatte: Die Große Mauer, die das chinesische Volk vor den Gefahren des freien Internet schützen soll, ist wieder ein Stück höher geworden. Das hat unter anderem der "Guardian" im Dezember berichtet.

Und, werden Sie fragen. Was ist daran interessant? Ist doch klar, dass die Chinesen immer weiter an der Internetzensur feilen.

Das stimmt. Spannend wird die Sache aber durch die Geschichte mit den VPNs. Virtual Privat Networks (VPN) sind eine von mehreren Methoden, um dem Zensor ein Schnippchen zu schlagen. Dabei werden die Datenpakete des Nutzers von einem externen Dienstleister in VPN-Pakete umgepackt. Nach außen hin sieht es dann so aus, als ob der betreffende Rechner gar nicht in China stehen würde, sondern zum Beispiel in den USA. Zudem wird meist die Möglichkeit genutzt, die "verpackten" Datenpakete, die ja den eigentlich interessanten Datenverkehr des Nutzers enthalten, noch einmal zu verschlüsseln, bevor sie über die Leitung geschickt werden.

Als Gegenmaßnahme blockiert die chinesische Zensur den Zugriff auf die externen Dienstleister. Dafür muss sie allerdings die Adressen der VPN-Server kennen. Die bekommt sie beispielsweise, indem Agenten sich als Dissidenten ausgeben und Accounts bei den Anti-Zensur-Diensten beantragen. Die VPN-Dienstleister wiederum bemühen sich dagegen, ständig schnell genug neue Zugangsknoten bereitzustellen, wenn die alten gesperrt werden – ein ewiger Wettlauf.

Spannend ist nun, dass der Guardian und andere Medien berichten, die Chinesen hätten offenbar eine Methode entwickelt, mit der sie verschlüsselte VPN-Verbindungen identifizieren können, ohne die Adressen der VPN-Server zu kennen. Gewissermaßen aus der Handschrift der Internet-Verbindung heraus.

Natürlich funktioniert auch das nicht hundertprozentig. Muss es aber auch gar nicht, wie diesem Eintrag im Blog von Schneier zu entnehmen ist. Ein anonymer US-Amerikaner, der in China arbeitet, schildert in dem Blog seine Erfahrungen mit der Internetzensur.

Und die beruht seiner Meinung nach auf zwei wichtigen psychologischen Faktoren: Der Schere im Kopf und der menschlichen Bequemlichkeit. Die Schere setzt vor allem bei VPN-Verbindungen für Unternehmen an. Die werden natürlich nicht blockiert, da eine solche Blockade China als Standort unattraktiv machen würde. Die Nutzung dieser Verbindungen für private oder gar politische Zwecke ist untersagt. Und in der Regel halten sich die Unternehmen auch daran - verhalten sich sogar angepasster, als es eigentlich nötig wäre, um das Privileg einer verschlüsselten Internet-Verbindung nicht zu verlieren.

Der zweite Punkt ist die menschliche Bequemlichkeit: Wer findig genug ist, die Große Firewall zu durchtunneln, kann Facebook und Twitter nutzen. Aber es ist doch viel bequemer und einfacher, die – nicht blockierten aber kontrollierten – äquivalenten chinesischen Dienste zu benutzen. Und natürlich kann man sich bei jeder Website einzeln anmelden. Es ist aber viel bequemer und einfacher, sich beim Internet-Provider zentral mit seiner Mobilfunknummer zu registrieren und dem dann das Password-Management zu überlassen.

Hat mich ein bisschen an die Strategie der Musikindustrie im Kampf gegen Musiktauschbörsen erinnert: Auf der einen Seite Druck aufbauen – auf der anderen Seite eine bequeme, legale Alternative anbieten. Von Apple lernen, heißt Siegen lernen – gewissermaßen. Ich fürchte, die Hacker, die zum Widerstand gegen die globale Überwachung aufrufen, müssen diesen Faktor mit einbeziehen. Um Trägheit zu überwinden, muss man Kraft aufbringen. Die Physik lässt sich auch im virtuellen Raum nicht überwinden. (wst)