Selbst ist das Bauteil

Produkte finden autonom ihren Pfad durch die Fertigung, reale und virtuelle Fabrik wachsen zusammen: Geht es nach den Verfechtern von „Industrie 4.0“, steht dem produzierenden Gewerbe eine Revolution bevor.

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Von
  • Christian Buck

Produkte finden autonom ihren Pfad durch die Fertigung, reale und virtuelle Fabrik wachsen zusammen: Geht es nach den Verfechtern von „Industrie 4.0“, steht dem produzierenden Gewerbe eine Revolution bevor.

Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Modehaus – und genau jenes Jackett, das Sie wollen, ist nicht da. Heute sagt der Verkäufer: „Tut mir leid, das ist ausverkauft, und die Wintermode ist leider schon aus den Lagern verschwunden.“ Künftig wird er vielleicht sagen: „Ich bestelle es Ihnen.“ Und in irgendeiner fernen Fabrik greift sich ein Roboterarm den passenden Stoff, der Stoff teilt der Schneidemaschine mit, wie er bearbeitet werden soll, und am Ende sagt das fertige Jackett der Versandabteilung, wohin sie es schicken muss. Für den Verkäufer wäre das nur ein kurzer Klick auf dem Bildschirm – aber hinter den Kulissen bedeutet es eine Revolution: Die gesamte Produktionssteuerung wäre auf den Kopf gestellt.

Um das zu bewerkstelligen, soll künftig die Basis das Kommando übernehmen: Statt sich ferngesteuert durch die Fabrik leiten zu lassen, suchen sich Produkte ihren Weg von Maschine zu Maschine selbst. Vorbild sind die Datenpakete im Internet, die auch keiner fest vorgegebenen Route folgen, sondern an jedem Knoten je nach aktueller Verkehrssituation auf dem Datenhighway einen anderen Weg einschlagen können. Was beim Datenverkehr seit Jahrzehnten Standard ist, bedeutet für die Produktion allerdings einen Paradigmenwechsel – denn die Abläufe in den Fabriken werden heute noch zentral koordiniert und von Menschen fest vorgegeben. Kein Wunder also, dass Experten von „Industrie 4.0“ oder der „vierten industriellen Revolution“ sprechen – nach den historischen Umbrüchen durch Dampfmaschinen im 19. Jahrhundert, durch elektrische Motoren und Fließbänder ein Jahrhundert später und durch den Einzug von Elektronik und Software in die Fabrikhallen der 70er-Jahre.

Den bevorstehenden Sprung nach vorn sollen sogenannte „Cyber-Physical Systems“ (CPS) bringen. Dahinter verbergen sich Produkte mit eingebetteten Minicomputern, Sensoren und Funkschnittstellen, die mit ihrer Umgebung kommunizieren und beispielsweise den Maschinen sagen, wie sie bearbeitet werden wollen. „Im Speicher der CPS sind alle Informationen über das Produkt und die nötigen Bearbeitungsschritte abgelegt“, erklärt Wolfgang Wahlster, Leiter des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI). „Sie können daher den Maschinen sagen, welcher Vorgang als Nächster an der Reihe ist.“ Im Labormaßstab funktioniert das schon: Das DFKI betreibt in Kaiserslautern gemeinsam mit 20 Partnern aus Industrie und Forschung, darunter Siemens, BASF, die TU Kaiserslautern und das Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung, die „Smart Factory“. Dort durchlaufen zum Beispiel Seifenspender eine Abfüllanlage und teilen den Maschinen über aufgeklebte RFID-Etiketten drahtlos mit, welche Seife in sie gefüllt oder welcher Deckel auf sie geschraubt werden soll (siehe TR 5/2009, S. 60). Das Kürzel RFID steht für „Radio-Frequency Identification“, dahinter verbergen sich kleine elektronische Chips mit Antenne, die über Funk mit einer Basisstation Daten austauschen.

Der Dialog zwischen Produkt und Maschine soll die Fertigung in Zukunft deutlich flexibler machen, weil bei außerplanmäßigen Änderungen wie Stornierungen oder Problemen in der Anlage kein Eingriff in ein komplexes zentrales Steuerungssystem mehr nötig ist – wenn beispielsweise eine Maschine ausfällt, suchen sich die Produkte einen anderen Platz, an dem sie bearbeitet werden können.

Das fasziniert auch die Forscher der Arbeitsgruppe „Global Production Logistics“ an der Jacobs University Bremen, wie die „Fabrik der selbststeuernden Produkte“ beweist, die sie gemeinsam mit Kollegen von der Universität Bremen aufgebaut haben. In dem Demonstrator werden verschiedene Varianten von Rücklichtern aus den Komponenten Reflektor, Elektronik, Dichtung, Lampe und Diffusor zusammengebaut. Die Reflektoren sind mit einem RFID-Chip ausgestattet, sodass die Anlage immer weiß, wo sich welches Produkt gerade befindet. Jedes von ihnen wird von einem Software-Agenten repräsentiert, der mit den anderen Agenten aushandelt, welches Rücklicht als Nächstes an welcher Maschine bearbeitet werden soll. Dahinter stecken einfache Prioritätsregeln – wer zuerst kommt, am schnellsten ausgeliefert werden muss oder die kürzeste Bearbeitungszeit hat, kann hier punkten. Die Maschine nimmt die Anfragen entgegen, und das Rücklicht mit der höchsten Punktzahl bekommt den Zuschlag. „So können wir schnell auf geänderte Aufträge oder Störungen in den Maschinen reagieren“, erklärt Henning Blunck von der Jacobs University. „Der klassische hierarchische Ansatz würde hier rasch an seine Grenzen stoßen.“

Ähnlich wie die Rücklichter im Bremer Demonstrator und die Seifenspender in der Smart Factory sollen sich bald auch viele andere Produkte über RFID-Chips mit den sie umgebenden Anlagen austauschen. Die Funketiketten können dabei entweder direkt am Bauteil befestigt sein – etwa auf einer Autokarosserie – oder an einem Bauteilträger kleben. Erste Anwender dürften Branchen wie der Automobil- und der Flugzeugbau sein, in denen schon heute hochkomplexe Netzwerke von Zulieferern und Logistik-Dienstleistern üblich sind, die mit zentralen Steuerungen kaum mehr zu beherrschen sind. (vsz)