Chip ersetzt Ratte

Miniaturorgane, auf einem Chip zu einem Organismus zusammengeschaltet, könnten bald eine Alternative zu herkömmlichen Medikamententests bieten.

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Von
  • Christian Buck

Miniaturorgane, auf einem Chip zu einem Organismus zusammengeschaltet, könnten bald eine Alternative zu herkömmlichen Medikamententests bieten.

Der Schrank ist voller Organe – und sie scheinen sich an diesem ungewöhnlichen Platz ausgesprochen wohlzufühlen. Geschützt vor widrigen Umwelteinflüssen, bei 37 Grad Temperatur und bestens mit Nährstoffen versorgt, können sich Leber, Darm und Haut hinter der Tür des Inkubators im Institut für Biotechnologie der TU Berlin ungestört entwickeln. Doch wer in den hellgrauen Brutschrank hineinschaut, wird vergeblich nach Herz, Lunge oder Leber suchen, wie man sie aus medizinischen Fachbüchern oder anatomischen Sammlungen kennt. Stattdessen lagern dort nur unscheinbare Glasplatten von der Größe einer Kreditkarte, angeschlossen an durchsichtige Plastikschläuche.

"Multi-Organ-Chip" nennen die Berliner Wissenschaftler ihre Entwicklung, die in einigen Jahren zu einem Umbruch beim Test neuer Medikamente führen könnte: In ihrem Brutschrank arbeiten winzige Organkopien, die von einem künstlichen Blutkreislauf mit Nährstoffen versorgt werden und die Verhältnisse im menschlichen Körper sehr genau nachbilden. Derzeit passen maximal zwei dieser Miniaturimitate plus Blutkreislauf auf einen Chip, zum Beispiel Leber und Haut. "Damit lässt sich bereits die Wirkung von Cremes untersuchen", erklärt Laborleiterin Alexandra Lorenz. "Deren Wirkstoffe werden über die ,Haut' aufgenommen und wandern mit dem Blutkreislauf in die ,Leber', wo sie dann in den Stoffwechsel eingebaut werden."

Die Hautkopie des Multi-Organ-Chips besteht aus einem kleinen Plastikzylinder von etwa einem Zentimeter Durchmesser, der in die Glasplatte gesteckt wird. In ihm haben die Wissenschaftler drei Lagen Gel aufeinandergeschichtet, in denen verschiedene Typen von Hautzellen leben. Sie bilden die drei Schichten der menschlichen Haut nach: Die Epidermis als äußerste Schicht, dann die darunterliegende Lederhaut (Dermis) und die Unterhaut. Jede Lage ist etwa 200 Mikrometer dick, und zusammen verhalten sie sich wie das biologische Original. Geben die Forscher einen Wirkstoff auf das Hautimitat, wandern dessen Moleküle durch alle Schichten, reagieren mit den Zellen, gelangen in den Blutkreislauf und erreichen schließlich die benachbarte Mini-Leber.

Den gesamten menschlichen Körper können die Wissenschaftler damit zwar noch immer nicht abbilden, aber sie kommen den Vorgängen dort bereits recht nahe – viel näher zumindest als mit den Standardmethoden der Arzneimittelforschung: Heute testen Pharmakonzerne neue Wirkstoffe in zwei- oder dreidimensionalen Kulturen, die aber nur aus Zellen einer Art bestehen und auch keinen Blutkreislauf aufweisen – sie schwimmen darum quasi in ihren eigenen Ausscheidungsprodukten. Außerdem müssen jedes Jahr Millionen von Versuchstieren ihr Leben lassen, um Effizienz und Nebenwirkungen neuer Medikamente zu untersuchen. Das Verfahren ist nicht nur ethisch sehr umstritten, sondern zudem in vielen Fällen wenig aussagekräftig, weil es sich nicht auf den Menschen übertragen lässt. Kein Wunder, dass die Pharmakonzerne nach Alternativen suchen, die bessere Ergebnisse liefern, keinen Protest hervorrufen und zugleich weniger Zeit und Geld kosten.

Die künstlichen Organsysteme auf Chips könnten diese Alternative sein: "Wenn es uns gelingt, in einigen Jahren eine Vielzahl von Organen samt Blutkreislauf auf einem Chip unterzubringen, lassen sich damit die Versuche in Zellkulturen und mit Tieren ersetzen", glaubt Uwe Marx, Leiter des Programms "Multi-Organ-Chip" an der TU Berlin. Noch sind die Berliner nicht so weit – aber das Ziel haben sie klar vor Augen: In etwa drei Jahren sollen fünf Organe auf einen Chip gleicher Größe passen, in fünf Jahren sollen es ungefähr zehn sein – darunter Leber, Darm, Gehirn, Niere, Herz und Lunge. Natürlich werden diese Kunstorgane weder denken können noch ein Herz mit seinen vier Kammern nachbilden. Entscheidend ist vielmehr, dass sie dem Original nahe genug kommen, um die Wirkung potenzieller Medikamente zu untersuchen.

Ob deren Wirkstoffe tatsächlich Krankheiten kurieren, werden zunächst wohl immer noch klassische klinische Studien zeigen müssen. Doch Marx gibt sich auch hier optimistisch: "Vielleicht lösen unsere Chips später sogar die klinischen Tests der Phasen eins und zwei ab, mit denen Wirkungen und Nebenwirkungen an menschlichen Versuchspersonen getestet werden."

Ob der ambitionierte Plan der Berliner Wissenschaftler tatsächlich aufgeht, hängt von der Finanzierung ab: Für die erste Phase der Entwicklung hat das Team 2010 im Rahmen des "GO-Bio"-Wettbewerbs vom Bundesforschungsministerium drei Millionen Euro bekommen. Eine Anschlussfinanzierung ab 2013 wird nur genehmigt, wenn aus dem Projekt ein Unternehmen entsteht, das auch private Investoren für sich begeistern kann. Derzeit ist Marx darum auf der Suche nach Geldgebern, wobei er gute Argumente hat: Neben dem Chip-Aufbau hat das Berliner Team auch den künstlichen Blutkreislauf und die Kultivierung der Mini-Organe patentiert.

Aber die Konkurrenz schläft nicht – so arbeitet auch ein Team um Donald Ingber vom Wyss Institute der Universität Harvard an Organimitaten. Die US-Forscher haben beispielsweise eine künstliche Lunge gebaut: Dazu wird ein winziger Kanal in einem Stückchen Plastik durch eine dünne Membran in zwei Hälften geteilt. Eine Seite der Membran lassen die Wissenschaftler von Lungenzellen besiedeln, die andere von Blutgefäßzellen. Selbst Atembewegungen können sie nachbilden – mithilfe zweier weiterer Kanäle, die rechts und links des Hauptkanals verlaufen und von ihm durch elastische Wände getrennt sind: Ein rhythmischer Unterdruck darin sorgt dafür, dass sich das Sandwich aus Zellen und Membran rhythmisch ausdehnt und wieder zusammenzieht.

Damit steht der künstlichen Atmung nichts mehr im Weg: Sauerstoff aus dem einen Teil des Kanals wandert durch die Schicht mit den Lungenzellen, die Membran und die Blutgefäßzellen in den anderen Teil – so wie eine echte Lunge den Sauerstoff in winzigen Lungenbläschen sammelt und an die umgebenden Kapillargefäße abgibt. Die mechanische Bewegung der Kunstlunge spielt dabei eine wichtige Rolle: Ingbers Untersuchungen zeigen, dass Sauerstoff und Giftstoffe die Membran besser durchqueren können, wenn sich das System bewegt.

Mit ihrer künstlichen Lunge können die US-Forscher sogar die Reaktion des Immunsystems auf Eindringlinge studieren: Wenn sie Darmbakterien vom Typ Escherichia coli in den Luftkanal geben, wandern weiße Blutkörperchen aus dem Blutkanal durch die Membran und bekämpfen die Schädlinge.

Sogar einen künstlichen Darm hat Ingbers Gruppe gebaut. Der Organchip beherbergt innen nicht nur menschliche Zellen, sondern darüber hinaus viele Bakterien. Die lösen an dieser Stelle keine Krankheiten aus, sondern sind wichtig für die Verdauung. Auch Ingber will in Zukunft mehrere einzelne Organe zu einem Kunstorganismus verschalten, um die Wirkung neuer Medikamente zu untersuchen.

Wie sein deutscher Kollege Uwe Marx ist er überzeugt, dass die Methode zu besseren Ergebnissen und weniger getöteten Versuchstieren führen wird. "Unsere künstliche Lunge hat gezeigt, dass man damit sowohl die Aufnahme von Luftpartikeln als auch die Immunreaktion auf schädliche Mikroben nachahmen kann", sagt Ingber. "Damit ist der Nachweis erbracht, dass Organe auf Chips in Zukunft viele Tierversuche ersetzen könnten." Auch die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) des US-Verteidigungsministeriums glaubt offensichtlich an das Konzept: Mit bis zu 37 Millionen Dollar will sie Ingbers Institut fördern, um zehn Kunstorgane auf Chips zu einem menschlichen Mini-Organismus zu kombinieren. (bsc)