Verriss des Monats: Das seillose Seil
Das herkömmliche Equipment zur Simulation körperlicher Anstrengungen erreicht ein neues Level: virtuell-analoge Fitnessgeräte.
- Peter Glaser
Das herkömmliche Equipment zur Simulation körperlicher Anstrengungen erreicht ein neues Level: virtuell-analoge Fitnessgeräte.
Die Kunst des gepflegten Verreißens zweifelhafter Produkte ist ein wenig aus der Mode gekommen. An dieser Stelle präsentiert unser Kolumnist Peter Glaser einmal im Monat deshalb eine Rezension der etwas anderen Art: den Verriss des Monats. Vorschläge für besonders zu würdigende Produkte werden gerne per Mail entgegengenommen.
Was früher Faulheit hieß und durchaus köstlich war, hat sich in den modernen Industriestaaten zu einer Zivilisationskrankheit verformt: Bewegungsmangel. Bewegung verlagert sich immer mehr aus den Muskeln ins Nervensystem. Die Menschen werden neuronaler und nervöser. Da körperliche Gesundheit unvermeidlich mit Bewegung verbunden ist, entsteht durch die sogar bei der Fortbewegung im Auto sitzende Lebensweise des modernen Menschen ein Defizit, das er durch künstliche Bewegungsanreize wieder auszugleichen versucht.
In Fitnesstudios strampeln Bewegungsbedürftige auf Fahrrädern, die keine Räder mehr haben und laufen auf Bändern, ohne von der Stelle zu kommen. Die Stadtplaner der 50er Jahre hatten die autofreundliche Stadt entworfen, die den reibungslosen Fluss von Technik als Idealvorstellung sah. Heute steht dem eine zunehmende Versportung der Städte entgegen. Durchgehende Grünzüge werden angelegt, Rad- und Gehwegnetze weiträumig ausgebaut und Jogger-Pulks, Tai-Chi-Übende oder andere sich durch Bewegung Ertüchtigende gehören selbstverständlich zum Straßenbild moderner Metropolen. Der Siegeszug des Sportschuhs, des Flaggschiffs der modernen Markenzugewandtheit, führt dazu, dass dieser Bewegungswille, der sich längst zur Weltanschauung ausgewachsen hat, ständig und überall präsent ist. Die Frage "Wie geht's?" weist darauf hin, welche zentrale Rolle das Gehen und anverwandte Bewegungsabläufe für Gesundheit und Wohlbefinden spielen.
Manche Menschen aber haben keine Zeit oder sind aus anderen Gründen daran gehindert, sportlich Auslauf zu suchen. Also verlegt man mit Hilfe analoger Simulationstechnik den Vorgang nach innen, in die Wohnung, das Büro oder das Fitnessstudio. Fitnessgeräte substituieren Gegebenheiten wie Wege (Laufband), Fahrzeuge (Trimmrad) oder Boote (Ruderbank) und bringen sie ohne den sonst nötigen Platzbdarf in einem Raum unter. Nun gibt es aber auch kleine Räume (oder welche, die vollgestellt sind oder in denen Lampen tief von der Decke hängen), und wer dort beispielsweise versucht, Seil zu springen, läuft Gefahr, sich ein paar Kronleuchterkristalle einzufangen oder den Gummibaum zu entlauben. Hiergegen möchte nun eine bemerkenswerte Erfindung helfen: das Sprungseil ohne Sprungseil.
Man kann damit Seilspringen, ohne Seil zu springen. Folgt man diesem Instruktionsvideo, handelt es sich um ein virtuelles Sprungseil für Menschen, die zu dumm sind, ein richtiges Sprungseil zu benutzen. Wofür man bezahlt, sind die zwei verbleibenden Griffe, die zum Trost für das Verschwinden des Seils mit ein bisschen Technik ausgestattet sind. Man tut so, als würde man das Seil schwingen und die Griffe zählen das als einen Sprung und listen die verbrauchten Kalorien auf. Man muss auch nicht wirklich springen, es reicht schon, ein bisschen in den Knien einzuknicken, und auch das ist nicht wirklich nötig. "Ja", schreibt jemand in einem Produktkommentar zu einer der zahlreichen Ausführungen des seillosen Seils – "man kann auch einfach auf dem Sofa sitzen und die Dinger rumwirbeln, wenn man mag, und das Gerät wird glauben, dass man springt. Aus einem Grund, der sich mir noch nicht ganz erschlossen hat, ist das immer das erste, was die Leute wissen wollen, wenn sie das Ding bei mir zu Hause sehen".
Luxuriösere Versionen muntern einen auch auf: Im Motivationsmodus redet es aus den Griffen heraus, dass der Sportsgeist nicht erlahmen möge – eine Art psychologische Version des indischen Seiltricks. Wir sehen vor uns also einen eindrucksvollen Beleg für die Segnungen der Virtualisierung. Die Bewegungen, die ein erwachsener Mensch pro Tag durchschnittlich ausführt, entsprechen der Leistung eines Krans, der einen Sechstonner mit Anhänger 50 Meter hoch hebt. Und es gibt noch eine andere, noch eindrucksvollere Fähigkeit, über die der Mensch verfügt, vor allem, wenn er seine Faulheit überwinden soll: die Selbstüberlistung. Wer darin schwächelt, für den ist das seillose Seil eine formidable Hilfe.
In Japan, wo man einen ausgeprägten Sinn für solcherart Gerätschaften hat (nicht zuletzt, weil der Platz knapp ist), wurde übrigens bereits vor zwei Jahren eine ähnliche Neuerung aus einer ruhigeren Sportart gemeldet: Die Virtuals Masters Reel ist eine Angel ohne Rute. Dafür ist an der Rolle ein kleines Display angebracht, über das man virtuelle Fische fangen kann. ()