US-Musikindustrie: Das Ende der "Schreckensherrschaft"?

Nach der überraschenden Ankündigung des Verbands der US-Musikindustrie, künftig keine Massenklagen gegen mutmaßliche Urheberrechtsverletzungen durch Internetnutzer mehr zu führen, trifft der Strategiewechsel nicht nur auf Wohlwollen.

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Noch können sie es kaum glauben. Rechtsanwälte, die sich für ihre Mandaten gegen die übermächtige Klagemaschinerie der US-Musikindustrie stemmen, reagieren zurückhaltend bis ungläubig auf einen Zeitungsbericht, der vom Ende der Klagekampagne der großen Labels kündet. "Wenn es stimmt", sagt der New Yorker Anwalt Ray Beckerman, "wurde es auch langsam Zeit".

Es stimmt. "Wir können den Bericht des Wall Street Journal bestätigen", erklärt eine Sprecherin des Verbandes der US-Musikindustrie (Recording Industry Association of America, RIAA) gegenüber heise online. "Wir beenden unsere breit angelegte Klagekampagne gegen Einzelpersonen zu Gunsten eines alternativen Abschreckungsansatzes in Zusammenarbeit mit den ISPs."

"Es wurde Zeit", meint auch Fred von Lohmann, "das Ende der Klagewelle war längst überfällig." Der Anwalt der Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation (EFF) ist ein scharfer Kritiker der RIAA-Strategie. "Die Kampagne war nach allen Maßstäben ein Fehlschlag." Doch auch mit dem neuen Ansatz der RIAA, der die Provider in die Pflicht nimmt, ist die EFF nicht glücklich.

Die RIAA ist sich nach eigenen Angaben mit einigen großen Providern zumindest in groben Zügen über ein gemeinsames Vorgehen einig – welche Zugangsanbieter das sind, sagt der Verband nicht. Die Abläufe müssen im Detail noch ausgearbeitet werden, sagt die Sprecherin, doch im Kern schwebt den Labels ein "Three Strikes"-Regime nach französischem Beispiel vor: Wer rechtlich geschützte Musik illegal verbreitet, wird von seinem Provider per Mitteilung angezählt und riskiert im Wiederholungsfall, vom Internet abgeknipst zu werden.

Zwar soll – nach Darstellung des Verbandes – die Identität der Filesharer den Labels dabei nicht preisgegeben werden. Doch agieren die ISPs auf Zuruf der Musikindustrie. "Das Problem ist das Fehlen eines rechtsstaatlichen Verfahrens für die Beschuldigten", meint von Lohmann. Dazu kommen grundrechtliche Bedenken: Darf man im Informationszeitalter jemandem den Zugang zu einem der wichtigsten Kommunikationsmedien verwehren?

Es mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht so genau zu nehmen ist ein Vorwurf, dem sich die Musikindustrie nicht zum ersten Mal ausgesetzt sieht. Harvard-Professor Charles Nesson, der erst kürzlich in einem Filesharing-Fall die Verteidigung eines Bostoner Studenten übernommen hat, hält die ganze Klagekampagne für verfassungswidrig. Auch Beckerman hatte schon die Frage aufgeworfen, ob die hohen Summen, die den Beklagten als Strafe drohen, angesichts des tatsächlichen Wertes von ein paar Songs nicht den in der Verfassung verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzen.

Der New Yorker Rechtsanwalt bleibt auch nach dem Strategiewechsel skeptisch und glaubt die Beteuerungen des Verbands nicht, schon im Herbst mit den Klagen aufgehört zu haben. "Ich bin ziemlich vertraut mit der Neigung der RIAA, sich selbst unter Eid zu 'versprechen'", schreibt Beckerman in seinem Blog. "Von der RIAA wurden erst kürzlich eine große Anzahl Klagen eingereicht, eine erst am vergangenen Montag." Dabei tritt der Verband allerdings nie selbst als Kläger auf. Offiziell sind es die betroffenen Labels, vertreten durch RIAA-Anwälte .

Der Anwalt fragt sich zudem, was mit den laufenden Verfahren passiert – darunter das erste, in dem es tatsächlich zum Prozess, einer spektakulären Verurteilung und einer nicht weniger aufsehenerregenden Neuaufnahme gekommen ist. "Was ist mit den Unglücklichen, die bereits in diese ungerechten Verfahren verstrickt sind? Warum lässt die RIAA diese Klagen nicht auch fallen?" Eine Antwort darauf ist der Verband bisher schuldig geblieben.

Positiv reagiert die deutsche Branche. "Nach Frankreich und England schlagen jetzt auch die USA den von uns propagierten Weg zu einer effizienten Bekämpfung von Internetpiraterie mit Warnhinweisen ein", sagt der Vorsitzende des Bundesverbandes Musikindustrie, Dieter Gorny. "Massenverfahren gegen Internetpiraten waren und sind eine Notwehrlösung, solange keine effizienten Alternativen umgesetzt werden." Das klingt immer noch wie eine Drohung.

Umfragen in Frankreich und England hätten gezeigt, das 70 bis 90 Prozent der Internetnutzer beim ersten oder zweiten Warnhinweis ihr illegales Handeln einstellen würden. Gorny wünscht sich deshalb ein ähnliches Modell der Zusammenarbeit mit den deutschen Providern. "Ohne die Bereitschaft von Politik und Providern in Deutschland, den Versand von Warnhinweisen zumindest zu testen, bleibt uns keine Alternative zur juristischen Verfolgung von Internetpiraterie."

Allein 2007 und 2008 wurden nach Verbandsangaben rund 60.000 Strafanzeigen wegen Urheberrechtsverletzungen bei Musik gestellt. Sehr zum Leidwesen der Staatsanwälte, die der Flut der Verfahren kaum Herr wurden. Seit Inkrafttreten des zivilrechtlichen Auskunftsanspruches im September 2008 geht die Musikindustrie auch bei kleineren Fällen zivilrechtlich gegen Verletzer vor. Der Erfolg gebe ihnen Recht, meinen die Labels – die Zahl der illegalen Downloads sei von 2004 bis 2007 um fast die Hälfte zurückgegangen.

Die branchenübergreifende Initiative "Arts+Labs" nannte den Strategiewechsel der RIAA "ermutigend". Die Erfahrung zeige, dass die meisten Verbraucher auf legale Quellen umsteigen, wenn sie über illegales Filesharing aufgeklärt werden. Die erst im September gegründete Initiative hat sich auf die Fahnen geschrieben, gemeinschaftlich neue Wege für die legale Verbreitung von Musik im Internet zu entwickeln. Mit an Bord sind Provider AT&T sowie Viacom, NBC Universal, Cisco, Microsoft und die Komponistenvereinigung Songwriters Guild of America.

Während die Branche hoffnungsvoll in die Zukunft blickt und die fehlgeschlagene Strategie wohl am liebsten vergessen machen will, beginnen die Spekulationen über weitere Hintergründe. Ein Grund, mutmaßt CNET News, könne sein, dass die Labels dem Verband weniger Mittel zur Verfügung stellen und für die teure Klagekampagne kein Geld mehr da ist.

Vergessen will Beckerman nicht. Der Anwalt setzt auch auf das gute Gedächtnis der Bürger und die Abstimmung mit den Füßen. "Ich hoffe, die Verbraucher erinnern sich an diese fünfeinhalbjährige Schreckensherrschaft und meiden die Produkte der RIAA-Labels."

Siehe dazu auch:

(vbr)