Brille liest für Sehbehinderte

Eine junge Firma hat ein Bilderkennungsverfahren entwickelt, das Texte in der Umwelt erfassen und per Sprachausgabe vorlesen kann.

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Eine junge Firma hat ein Bilderkennungsverfahren entwickelt, das Texte in der Umwelt erfassen und per Sprachausgabe vorlesen kann.

Das israelische Start-up OrCam hat ein kompaktes Kamerasystem entworfen, mit dem Menschen mit schweren Sehbehinderungen ihre Umgebung besser erfassen können. Die Technik besteht aus zwei Teilen: Einem leichten Bildsensormodul, das sich an der Bügelseite von nahezu jeder Brille befestigen lässt, und einem kompakten Steuercomputer, der in der Hosentasche steckt und mit einem dünnen Kabel an das Sensormodul angebunden wird.

Richtet der Träger seinen Blick beispielsweise im Supermarkt auf eine Verpackung mit Text, erkennt das System diesen und erlaubt es, ihn vorzulesen – über einen im Bildsensormodul befindlichen Knochenschalllautsprecher, wie er auch in Googles Computerbrille Glass sitzt. Dieser leitet den Schall durch den das Hörorgan umgebenden Schädelknochen weiter; ein Kopfhörer, der Umgebungsgeräusche ausblenden würde, ist nicht notwendig, was die Technik sicherer macht. Das OrCam-Gerät ist so eingerichtet, dass es die unterschiedlichsten Textsorten verarbeiten kann, egal wo sie sich im Kamerafeld gerade befinden.

Die Sehhilfe gehorcht auf Fingerzeig.

(Bild: OrCam)

Hinzu kommen verschiedene Symbole wie beispielsweise rote und grüne Ampeln, Verkehrsmittel ("Bus Nummer 7") und Gesichter von Freunden sowie Orte ("Eingang zum Supermarkt", "Regal mit den Frühstücksflocken"), die erkannt werden können. Die Datenbank ist zudem benutzerfreundlich erweiterbar – Nutzer können dem System neue Gegenstände beibringen. Damit das OrCam-Gerät nicht einfach so vorzulesen beginnt, reagiert es auf natürliche Zeigegesten: Wo sich der Finger gerade befindet, wird losgelesen. Freunde werden dagegen direkt angesagt, so dass man sie beispielsweise in einem Restaurant erkennt.

OrCam wurde vor einigen Jahren vom Computerwissenschaftler Amnon Shashua gegründet, der Professor an der Hebräischen Universität ist. Die verwendeten Bilderkennungsalgorithmen wurden von ihm zusammen mit Kollegen an der Hochschule entwickelt, darunter Shai Shalev-Shwartz und Yonatan Wexler.

Neben dem Bildsensormodul ist auch noch ein kleiner Rechner notwendig.

(Bild: OrCam)

Tomaso Poggio, MIT-Informatiker und Experte für Bilderkennungsverfahren, der Shashua noch aus seiner Studienzeit kennt, hält das OrCam-System für ein beachtenswertes Produkt. "Es ist erstaunlich, dass es vom Nutzer lernen kann, ein neues Produkt zu erkennen", so Poggio gegenüber der "New York Times". "Das ist komplexer, als es erscheint. Als Experte halte ich das für wirklich eindrucksvoll."

Dazu gehört unter anderem, dass die Technik mit Texten auf den unterschiedlichsten Oberflächen zurechtkommt, egal ob man es nun mit einem Straßenschild, einer in der Hand gehaltenen Zeitschrift oder einer vor der Kamera platzierten Produktverpackung zu tun hat. Texterkennungssysteme wie die bei Scannern gebräuchliche Optical Character Recognition, kurz OCR, kommt zwar mit scharfgestellten Texten problemlos klar, streikt aber, sobald Text zu weit entfernt oder schlecht beleuchtet ist.

Die Kamera fällt weniger auf als Google Glass.

(Bild: OrCam)

Teuer ist die laut Hersteller bereits alltagstaugliche Sehhilfe erstaunlicherweise nicht: Mit einem Einführungspreis von 2500 Dollar soll sie ungefähr so viel kosten, wie man in den USA für ein besseres Hörgerät zahlt. Es ist laut Medienberichten das einzige Gerät seiner Art, das von einer Firma im Privatbesitz angeboten wird.

Aktuell wird vom OrCam-System allerdings nur der englische Sprachraum unterstützt, weitere Texterkennungsmodule sollen erst später folgen. Die Firma denkt zudem daran, ihre Erfindung auch für andere Zielgruppen zu vermarkten, beispielsweise für Menschen mit Leseschwäche oder Demenzkranke, die einen Alltagshelfer brauchen.

Der potenzielle Markt ist allein unter den Sehbehinderten riesig. Laut "New York Times" leiden in den Vereinigten Staaten derzeit mehr als 21 Millionen Menschen ab 18 Jahren unter den verschiedensten Sehbehinderungen. Weltweit soll es laut OrCam über 342 Millionen Betroffene geben, 52 Millionen davon verfügten über ein Einkommen, das die Sehhilfe erschwinglich macht. (bsc)