Gottfried Wilhelm Leibniz: "Anders hätte Gott sie gar nicht erschaffen können"

300. Todestag: Kein Mensch seiner Epoche hat in so vielen unterschiedlichen Disziplinen Meilensteine gesetzt wie Gottfried Wilhelm Leibniz. Am 14. November 1716 starb der Universalgelehrte.

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300. Todestag: Kein Mensch seiner Epoche hat in so vielen unterschiedlichen Disziplinen Meilensteine gesetzt wie Gottfried Wilhelm Leibniz. Am 14. November 1716 starb der Universalgelehrte.

Leibniz wird am 1. Juli 1646 in Leipzig geboren. 1667 promoviert er in Altdorf zum Doktor der Rechte und wird Berater des Mainzer Erzbischofs. 1671: Erster Entwurf einer Rechenmaschine, die zeitlebens nicht funktionieren wird. 1672 bis 1676: Aufenthalt in Paris als Forscher und Diplomat, danach wechselt Leibniz als Hofrat nach Hannover. Acht Jahre später erfolgt die Veröffentlichung der Infinitesimalrechnung. 1685 wird das Windmühlen-Vorhaben im Harz abgebrochen; Beginn der Welfengeschichte, die erst posthum veröffentlicht wird.

1700: Leibniz gründet die Preußische Akademie der Wissenschaften. Zehn Jahre später erscheint seine "Theodicée" und wird schnell zur "Bibel der Aufgeklärten". Am 14. November 1716 stirbt Leibniz in Hannover. Seit 1986 vergibt die DFG den renommierten Leibniz-Preis. 2006 wird Leibniz' Korrespondenz Weltdokumentenerbe.

Technology Review: Ich bin hocherfreut, Eure Exzellenz hier in Hannover anzutreffen. Allzu oft sieht Ihr Arbeitgeber, Fürst Ernst August, Sie ja offenbar nicht.

Gottfried Wilhelm Leibniz: Wissen Sie, ich kann meinem Fürsten auch anderswo dienen. Gerade komme ich von einer sehr beschwerlichen Arbeit im Harz zurück. Um das Grubenwasser der hannoverschen Erzbergwerke abzupumpen, habe ich eine völlig neue Windkunst mit aufrecht stehender Achse konstruiert – sie kostet weniger, kommt mit weniger Wind aus und wird bald überall nachgebaut werden.

TR: Sie, einer der berühmtesten Universalgelehrten Europas, verbringen Ihre Zeit damit, Windmühlen zu bauen?

Leibniz: Aber ja. Mein Wahlspruch lautet schließlich: Theoria cum praxi. Jede Theorie muss den Menschen auch praktischen Nutzen bringen.

TR: Und? Vertragen sich Theorie und Praxis im Harz?

Leibniz: Meine Kalkulationen waren jedenfalls richtig. Leider sabotieren Handwerker und Bergbeamte mein Werk ständig.

TR: Laufen die Mühlen denn nun oder nicht?

Leibniz: Sie klingen schon ganz so wie mein Fürst. Ich werde sie schon noch in Bewegung bringen, auch wenn ich das aus meinem eigenen Beutel bezahlen muss.

TR: Der Fürst wird wenig begeistert sein, dass Sie so viel unterwegs sind und dass für ihn so wenig dabei herumkommt. Jetzt sollen Sie für ihn die Geschichte der Welfen schreiben. Will er Sie damit an die kurze Leine nehmen?

Leibniz: Auch dafür muss ich viele Reisen zu fremden Archiven unternehmen, bis nach Italien. Das Werk soll schließlich auch vor der Wissenschaft Bestand haben und nicht nur Ruhmesgeschichten kolportieren. Also muss ich mit der Naturgeschichte beginnen.

TR: Verstehe ich das richtig – Sie sollen für die Welfen ein paar wichtige Ahnen herausfinden, und Sie schreiben erst einmal über Geologie und Paläontologie?

Leibniz: Das ist unabdingbar, denn alles hängt mit allem zusammen.

TR: Warum stellen Sie Ihr Genie und Ihre Arbeitskraft denn überhaupt in den Dienst eines machtbesessenen Provinzherrschers?

Leibniz: Ich muss doch bitten, gegenüber Ihrer Hoheit keinen solchen Ton anzuschlagen. Aber nun gut: Als mein alter Gönner starb, war ich gerade in Paris – und der Aufenthalt dort forderte nicht unerhebliche Mittel. Da kam mir der Ruf aus Hannover sehr gelegen. Außerdem: Wo sonst sollte ich mit meinen Ideen die Welt zum Besseren wenden, wenn nicht als Berater an einem Fürstenhof?

TR: Hört der Fürst denn auf Sie?

Leibniz: Sie sprechen da einen wunden Punkt an. Wenigstens Fürstin Sophie, ein Frauenzimmer von beachtlichem Verstand, weiß meine Gedanken zu schätzen.

TR: Kann Ihr schwindender Einfluss am Hof auch daran liegen, dass Sie sich, bei allem Respekt, regelmäßig verzetteln und nichts richtig zu Ende bringen?

Leibniz: Ich gestehe, ich habe mich niemals nur zu einer einzigen Arbeit zwingen lassen. Beim Erwachen habe ich schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreicht, sie alle aufzuschreiben. Aber diese Abwechslung hat mich – anstelle von Ruhepausen und Vergnügungen – bei Kräften erhalten. Außerdem bekomme ich auch viel zu wenig Geld und Unterstützung für meine vielen Vorhaben. Ich habe noch nicht einmal Gehilfen, um die fürstliche Bibliothek zu ordnen.

TR: Was ist eigentlich aus der Rechenmaschine geworden, die Sie der Welt schon seit Jahren präsentieren wollen?

Leibniz: Sie funktioniert – im Prinzip jedenfalls, ich muss nur noch ein paar Verfeinerungen anbringen lassen. Aber es ist ja so schwer, hierzulande einen guten Mechanikus zu finden. Vieles lasse ich in Paris bauen, und das dauert eben.

TR: Woran hakt es denn?

Leibniz: An der Übertragung von Dezimalstellen von einer Zahlenwalze auf die nächste – hier muss ich immer noch mit Hand nachhelfen. Deshalb kann ich die Apparatur noch nicht in fremde Hände geben.

TR: Sie haben auch ein Zahlensystem entwickelt, das nur mit Nullen und Einsen arbeitet. Ließe sich eine Rechenmaschine damit nicht viel einfacher bauen? Jedenfalls hätten Sie dann keinen Ärger mehr mit Dezimalstellen...

Leibniz: Ein interessanter Gedanke. Ich habe in der Tat schon über eine dyadische Maschine nachgedacht, die rechnet, indem sie Kugeln in bestimmte Löcher fallen lässt. Aber sie wäre noch komplizierter zu bauen. Nein, da bleibe ich doch lieber bei meinen Zehnerwalzen. Die wahre Schönheit meiner Dyadik liegt ohnehin woanders: Sie ist ein mathematischer Gottesbeweis.

TR: Wie das?

Leibniz: Der Geist Gottes steht für die Eins und die Null für die leere Finsternis. Wenn ich also jede Zahl, die es gibt, mit Nullen und Einsen ausdrücken kann, zeigt das: Die Eins genügt, um alles aus dem Nichts zu entwickeln. Das muss doch auch den größten Heiden bekehren!

TR: Und Sie glauben ernsthaft, dass sich Menschen durch reine Logik bekehren oder überzeugen lassen?

Leibniz: Oh ja! Ich entwickle gerade eine Universalsprache, die strenger Logik folgt. Wenn sie vollendet ist, wird man sich nicht mehr darüber streiten müssen, wer in einem bestimmten Punkt Recht oder Unrecht hat – es ließe sich einfach ausrechnen. Jeder Streitfall könnte eindeutig geklärt werden, indem man ihn aus Latein, Französisch oder meinetwegen auch aus Deutsch in meine "Characteristica universalis" übersetzt. So ließen sich auch die Konfessionen endlich wiedervereinigen, weil es keine Zweifel mehr darüber geben kann, was die Wahrheit ist.

TR: Überschätzen Sie da nicht die Macht der Rationalität?

Leibniz: Keinesfalls. Die Mathematik hat immer recht. Leider fehlt mir die Zeit, meine Sprache auszuarbeiten. Aber wenn sie fertig wäre und mir ein Fürst endlich einmal lange genug zuhören würde, müsste er zwingend zu den richtigen Erkenntnissen kommen.

TR: Heute haben wir Rechenmaschinen, die mit dem binären System arbeiten und fast beliebig komplexe Aufgaben bewältigen können. Einer tieferen Wahrheit hat uns das kaum nähergebracht.

Leibniz: Dann müssen Sie eben weiter an Ihren Maschinen arbeiten. Wir leben in der besten von allen möglichen Welten, anders hätte Gott sie gar nicht erschaffen können. Und wer ihre Harmonie durchschaut, findet auf alles eine Antwort. (grh)