"Da ist ein Flugzeug im Hudson"

Der Flugzeugabsturz in New York, der letztlich eine formidable Notlandung war, ging per Twitter um die Welt, bevor die ersten Nachrichtenagenturen in die Gänge kamen. Ein weiterer Sieg des Web 2.0 über den behäbigen Journalismus?

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Der Airbus der US Airways mit der Flugnummer 1549 war kaum auf dem Hudson River niedergegangen, da hatte der für die 150 Passagiere und fünf Besatzungsmitglieder unvorhergesehen kurze Flug schon einen Wikipedia-Eintrag. Etwa zwanzig Minuten nach der Notwasserung in New York wurde der Eintrag US Airways Flight 1549 angelegt. Während die Agenturen mit aufgeregten Eilmeldungen die Nachricht über ein in den Fluss gestürztes Verkehrsflugzeug verbreiten, geht über Twitter das vermutlich erste Foto der schwimmenden Maschine um die Welt. "Erster!", ruft da die internationale Web-2.0-Community und feiert ihren Sieg über den behäbigen alten Journalismus. Dabei fängt das Rennen zu diesem Zeitpunkt erst an.

Flug 1549 unmittelbar nach der Notwasserung

(Bild: Gregory Lam)

"Da ist ein Flugzeug im Hudson", twittert Janis Krums um 15:36 Uhr New Yorker Zeit. "Ich bin auf einer Fähre, die Leute aufnehmen wird. Verrückt." Dazu stellt er ein mit seinem iPhone aufgenommenes Foto ins Netz. Das ist kaum fünf Minuten nach der Notlandung des Airbus A320 auf dem eiskalten Fluss zwischen Manhattan und New Jersey. Noch während die New Yorker Fähren die auf den Tragflächen und Notrutschen wartenden Menschen aufnehmen, beginnt sich das Web 2.0 warmzulaufen.

Bei so einem Großereignis von internationalem Interesse zeigt sich die ganze Stärke des Netzes, aber auch seine Schwächen. Beinahe sofort schwillt der Twitter-Stream an, Bilder landen auf Flickr und werden auf allen Kanälen hin und her geschickt. Die im Internet verfügbaren Daten werden zu Katastrophen-Mashups verknüpft: Die Flugdaten von Flug 1549 werden mit Google Maps oder Google Earth visualisiert. Luftfahrtenthusiasten versuchen die schwierige Landung mit dem Flugsimulator und stellen ein Video davon auf YouTube.

In der Rückschau lässt sich daraus ein kohärentes Bild der Vorgänge machen. Auch die klassischen Medien nutzen die Möglichkeiten des Webs und nehmen Google zur Visualisierung ihrer Meldungen. Doch in den Minuten direkt nach der Notlandung liefern Twitter, Flickr und die Blogger auch nur Bruchstücke von Informationen, die sich erst langsam zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Gleichzeitig erhebt sich ein Grundrauschen aus Wiederholungen, Verzerrungen und Hörensagen, das die Ordnung des anschwellenden Nachrichtenstroms nicht leichter macht. Dabei können die klassischen Medien helfen, die im Idealfall Zugang zu Kanälen haben, die dem durchschnittlichen Web-2.0-Bürger nicht unbedingt offenstehen: Zum Beispiel die Handynummer eines Pressesprechers von US Airways oder ein direkter Draht zu den Behörden der Stadt.

Die professionellere Vernetzung stellt allerdings nicht sicher, dass die etablierten Medien auch schneller oder genauer informieren können. So nah dran wie Janis Krums war kurz nach der Notlandung kein Reporter. Die US-Nachrichtenagenturen meldeten das Unglück trotzdem nur wenige Minuten nach Krums' Tweet. Auch sie können noch nicht mehr beschreiben, als dass ein Flugzeug im Hudson schwimmt. "Ein kleines Flugzeug mit mehr als einem Dutzend Passagieren" sei auf dem Hudson gewassert, meldet Reuters um 15:40 Uhr Ortszeit und weiß auch schon von auf den Tragflächen wartenden Überlebenden. Noch zurückhaltender verbreitet Associated Press (AP) drei Minuten später, dass die New Yorker Feuerwehr einem "Bericht von einem Flugzeug im Hudson River" nachgehe.

Mit dieser anfänglichen Zurückhaltung der Old Media ist es allerdings schnell vorbei. Bis die Situation einigermaßen geklärt ist und die Tatsache, dass es sich um eine äußerst gelungene Notlandung handelt, auch auf der anderen Seite des Atlantiks angekommen ist, vergeht eine Weile. AP macht aus dem vorsichtigen Feuerwehrbericht in nur fünf Minuten einen Flugzeugabsturz, der sich in der Folgezeit hartnäckig in den Schlagzeilen hält. Dabei melden die Agenturen auch das, was sie bei Fernsehsendern wie CNN oder MSNBC sehen, die selbst zu dieser Zeit noch hauptsächlich Mutmaßungen senden. In dem Durcheinander verlieren auch die Nachrichtenprofis der 24/7-Sender den Überblick und machen sich mit ihrem Halbwissen zum Gespött der Luftfahrtprofis, die in ihren eigenen Foren über die ahnungslosen Medien herziehen.

Nach dem Twitter-Gewitter bei den Terroranschlägen von Mumbai also ein weiterer Sieg für den Bürgerjournalismus im Netz, wie ihn das Wall Street Journal proklamiert? Dass hier ausgerechnet ein Traditionsmedium der alten Garde dem Web 2.0 zum Etappensieg gratuliert, illustriert das Problem beider Kontrahenten: Sie nehmen das Nachrichtengeschäft als Wettbewerb wahr, in dem es nur um die Frage geht, wer Erster wird. Dabei nutzt einem Krums' eindrucksvolles Twitpic alleine wenig. Auch die Aufnahme des Augenzeugen Gregory Lam, der kurz nach der Notwasserung den Auslöser drückte, erzählt nicht die ganze Geschichte. Erst zusammen mit den ersten Meldungen der klassischen Medien wird das Gesamtbild klarer. (vbr)