"Vor allem an Schlagzeilen interessiert"

Der Biophysiker Daniel Mietchen kritisiert das wissenschaftliche Verlagswesen und fordert, Studien frei zugänglich zu machen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Hanns-J. Neubert

Der Biophysiker Daniel Mietchen kritisiert das wissenschaftliche Verlagswesen und fordert, Studien frei zugänglich zu machen.

Mietchen arbeitet am Museum für Naturkunde Berlin. Am 21. Oktober erhielt er einen der drei ASAP-Preise der Public Library of Science (PloS), dem wohl bekanntesten Open-Access-Verlag. Der Forscher und sein Team hatten eine Software entwickelt, die in wissenschaftlichen Literaturdatenbanken automatisch nach frei zugänglichen Multimedia-Anhängen sucht und sie in Wikimedia Commons ablegt, der Mediendatenbank von Wikipedia. So können Autoren sie in Wikipedia-Artikeln weiter verwerten.

Technology Review: Sie erhielten kürzlich den ASAP-Preis für Fortschritte auf dem Gebiet des offenen Zugangs zu wissenschaftlicher Literatur. Warum brauchen wir mehr Open Access?

Daniel Mietchen: Zwei Elemente sind wichtig: einerseits die Möglichkeit, die Artikel zu lesen, andererseits das Recht, sie ganz oder teilweise weiterzuverwenden. Bisher muss man sehr viel Geld für Abonnements bezahlen, nicht selten tausende Euro pro Jahr. Zudem können die Bibliotheken die Zeitschriften oft nicht einzeln bestellen, sondern nur im Paket mit anderen, die sie vielleicht gar nicht haben wollen. Und schließlich gibt der Autor die meisten seiner Rechte an der eigenen Veröffentlichung ab, kann sie also selbst nicht anderweitig verwerten. Eine Abbildung daraus in einen Wikipedia-Artikel einzubauen geht somit nicht.

TR: Im Preis für die Zeitschriften ist allerdings auch das aufwändige Peer Review-Verfahren enthalten. Wissenschaftler begutachten eingereichte Arbeiten, um die Qualität zu sichern. Wäre das bei unbezahlten Open-Access-Zeitschriften immer noch möglich?

Mietchen: Die Open-Access-Zeitschriften bemühen sich, das Peer-Review-Verfahren genauso durchzuführen wie gewohnt. Einige achten allerdings vor allem darauf, dass die beschriebene Forschung Sinn macht und die verwendeten Methoden vernünftig erklärt sind. Dabei berücksichtigen sie weniger, ob ein Artikel in Zukunft wichtig werden könnte. Diesen Anspruch haben Abo-Journale und insbesondere Magazine wie "Nature" und "Science". Ihnen fehlt allerdings der Platz für Details. Oft ist es ihnen zudem wichtiger, dass ein Forschungsergebnis Schlagzeilen macht.

TR: Mit Open Access sinkt die Qualität nicht?

Mietchen: Wenn Forschung tagesaktuell öffentlich dokumentiert würde, erschwert das nicht nur den Betrug – sondern bringt vor allem die weitaus häufigere ehrliche Wissenschaft schneller voran.

TR: John Bohannon, Biologe und Journalist in Harvard, ist anderer Meinung. Er schickte einen gefälschten Artikel an über 300 Open-Access-Verlage. 60 Prozent der angeschriebenen Zeitschriften führten gar keine Qualitätskontrolle durch.

Mietchen: Ein interessantes Experiment. Leider vielfach falsch interpretiert. Das Fachjournal "Science", in dem der Artikel erschien, sowie zahlreiche Kommentatoren leiteten daraus ab, dass die Qualität von Open-Access-Publikationen derjenigen von Abonnementszeitschriften nachsteht. Letzteren hat Bohannon den Artikel aber nicht geschickt, also fehlt die Kontrollgruppe und somit die Basis für solche Vergleiche.

Außerdem war seine Stichprobe verzerrt: Er hatte vorwiegend Verlage angeschrieben, deren lasche bis unlautere Praktiken bekannt waren. Allerdings hat er auch einige Publikationen ausgewählt, die formal akademische Kriterien erfüllen, und mit seiner Studie gezeigt, dass sie diesen in der Praxis nicht entsprechen.

TR: Also ein Unentschieden?

Mietchen: Prinzipiell ja, obgleich diese Studie dazu wie gesagt nichts hergibt. Der große Unterschied ist allerdings folgender: Erscheint ein fragwürdiger Artikel in einer Abozeitschrift, die keiner liest, bekommt die Welt es auch nicht mit – man muss ja ein Abo haben. Bei Open Access erfährt es über das Web potenziell die ganze Welt, und letztendlich kann sich so jeder selbst ein Bild machen. Das gilt natürlich genauso bei guten Artikeln.

TR: Ein Problem aber bleibt doch: Wenn es die Nutzer nicht tun, wer soll Open Access bezahlen?

Mietchen: Einige wenige Open-Access-Verlage nehmen Gebühren von Autoren, von deren Bibliotheken oder Institutionen. Aber die meisten finanzieren sich etwa über Institutionen oder durch Werbung, (bsc)