"Schockierend, wie stark die Mobilität von Teenagern eingeschränkt ist"

Die Social-Media-Forscherin Danah Boyd hat das Online-Verhalten von Jugendlichen untersucht. Das sei, anders als in Medien dargestellt, alles andere als naiv und aggressiv, sagt Boyd im TR-Interview.

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Von
  • Brian Bergstein

Die Social-Media-Forscherin Danah Boyd hat das Online-Verhalten von Jugendlichen untersucht. Das sei, anders als in Medien dargestellt, alles andere als naiv und aggressiv, sagt Boyd im TR-Interview.

Ach ja, die Jugend von heute! Ständig hängt sie in sozialen Netzwerken herum und posaunt noch das kleinste Detail aus ihrem Privatleben heraus. Was läuft da bloß falsch? Gar nichts, meint Danah Boyd, die bei Microsoft Research soziale Medien erforscht. In ihrem demnächst erscheinenden Buch „It’s Complicated: The Social Lives of Networked Teens“ argumentiert sie, dass das Online-Verhalten von Teenagern sich kaum von dem unterscheidet, was sie sonst in ihrer Freizeit tun. Dass sie soviel Zeit in Online-Gemeinschaften verbringen, liege daran, dass es nur wenig Alternativen gebe, sagt Boyd. Denn Eltern glaubten zunehmend, dass das klassische Herumstreunen in der Nachbarschaft zu unsicher sei. Technology Review sprach mit Danah Boyd über ihre Erkenntnisse, wie die Digital Natives wirklich ticken.

Technology Review: Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie Ihr Buch besser „Hört auf, euch aufzuregen“ betitelt hätten.

Danah Boyd: Das ist lustig, einer der ersten Titel, an die ich dachte, war „Klar, ey“. Immer wenn ich meine Forschungsergebnisse jungen Leuten zeigt, sagten sie: „Klar, ey. Ist das nicht total offensichtlich?“ Mein Buch fängt mit einer Anekdote an, in der ein Junge mich fragt: „Können Sie mit meiner Mutter sprechen? Können Sie ihr sagen, dass es mir gut geht?“ Solche Äußerungen habe ich ziemlich häufig von jungen Leuten gehört.

TR: Sie und Ihre Kollegin Alice Marwick haben 166 Teenager für das Buch interviewt. Sie selbst untersuchen soziale Medien aber schon seit langem. Was hat sie dabei überrascht?

Boyd: Es ist schockierend, wie stark die Mobilität von Teenagern eingeschränkt ist. Ich wusste zwar, dass sich das seit meiner Jugend zugespitzt hat, habe aber das Ausmaß unterschätzt. Die Freiheit, einfach rauszugehen und herumzustreunen, fehlt völlig. Jugendliche versuchen nicht einmal mehr, sich nachts aus dem Haus zu schleichen. Sie gehen online, weil sie sich da mit ihren Freunden treffen können.

Zudem hatte ich aufgrund von Medienberichten erwartet, dass das Mobbing zunehmen würde. Dass die Daten etwas ganz anderes hergeben, hat mich umgehauen.

TR: Warum hält sich dann so hartnäckig die Geschichte, dass Mobbing im Netz weiter verbreitet ist?

Boyd: Weil es sichtbarer ist. Es gibt da schlimme Dinge. Aber ich finde es frustrierend, wenn Panik die Realität verzerrt. Was mich unter anderem enttäuscht, ist, dass wir ein massives Problem mit psychischen Krankheiten haben, die Schuld aber der Technik geben, die sie nur ans Licht bringt. Stattdessen müssten wir uns um die psychischen Krankheiten kümmern.

TR: Ich verstehe, wenn Sie sagen, Facebook oder Instagram sind die Gegenstücke zu den Treffpunkten von Jugendlichen früher. Soziale Medien verstärken allerdings Alltagssituationen in einer schwierigen Weise. Ein Beispiel: Kinder können auf Facebook augenblicklich mitbekommen, dass sie etwas verpassen, was andere Kinder gerade tun.

Boyd: Das kann Fluch oder Segen sein. Diese interpersonalen Konflikte schaukeln sich viel schneller hoch und verletzen stärker. Das ist eines der Problem dieser Jugendkohorte: Einige haben die sozialen und emotionalen Fähigkeiten, um mit diesen Konflikten klarzukommen, andere nicht. Natürlich schmerzt es, wenn man merkt, dass eine Person einen nicht so mag, wie man selbst diese Person mag. Die Frage ist dann: Wie macht man daraus keine Gelegenheit, um in Selbstmitleid zu baden, sondern herauszufinden, wie man mit anderen umgeht? Indem man etwa sagt: „Hey, lass uns mal reden, was für eine Freundschaft das eigentlich ist“.

TR: Sie behaupten, dass Teenager nicht nachlässig mit der Privatsphäre umgehen, auch wenn es so aussehen mag, und heikle Gespräche sehr geschickt in Chatrooms in andere private Kanäle verlagern.

Boyd: Viele Erwachsene vermuten, dass Teenagern die Privatsphäre egal ist, weil sie so bereitwillig in sozialen Medien agieren. Ja, sie wollen in der Öffentlichkeit sein. Aber sie wollen nicht öffentliche Personen sein. Das ist ein großer Unterschied. Privatsphäre bedeutet nicht, sich von anderen zu isolieren. Sondern in der Lage zu sein, eine soziale Situation unter Kontrolle zu haben.

TR: Angenommen, Eltern könnten die Sache etwas entspannter betrachten, was sollten sie tun?

Boyd: Eine Gefahr liegt darin, dass wir – als Eltern – glauben, wir seien Experten für alles, was in unserem Leben und dem unserer Kinder passiert. Die Schlussfolgerung ist dann, dass wir Kindern etwas beibringen, indem wir ihnen etwas vorschreiben. Die beste Art, ihnen etwas beizubringen, wäre aber, Fragen zu stellen: „Warum hast du das gepostet? Hilf mir, um es zu verstehen.“ Das Ganze als Gelegenheit zu begreifen, ins Gespräch zu kommen. Natürlich kommt irgendwann der Punkt, an dem Ihr Teenager-Kind mit den Augen rollt und stöhnt: „Ich hab keine Lust, dir noch irgendwas zu erklären.“

Dann geht es noch darum, da zu sein. In den allermeisten Fällen, die ich gesehen habe, waren die ungesundesten Umgebungen jene, in denen die Eltern nicht da waren. Sie waren vielleicht physisch anwesend, aber nicht da.

TR: Worüber werden sich die Teenager von heute sorgen, wenn sie selbst mal Kinder haben?

Boyd: Die wesentlichen Punkte ändern sich eigentlich nicht: Sexualität und das Zurschaustellen von Sexualität. Bei mir waren das damals Lederminiröcke, Ponyfrisuren, Netzstrümpfe und über dem T-Shirt getragene BHs. Oha! Heute ist es das das Rumschicken von eigenen Nacktbildern – das Sexting – und Selbstporträts. Und dann der Druck, unter dem die Freiheit steht: Jede Generation findet neue Wege, das Leben einzuschränken und zu kontrollieren, und neue Technologien sind ein Ventil, diesen Druck abzulassen. Dann ist da plötzlich eine neue Form von Freiheit. (nbo)