Juristische Analyse: Streaming-Abmahnungen jenseits der roten Linie

Abmahnungen wegen angeblichen Konsums von Video-Streams sind regelmäßig zumindest als versuchter Betrug strafbar. Zu diesem Ergebnis kommt der Strafrechtler Ulf Buermeyer in seiner Analyse für heise online.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 883 Kommentare lesen
Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Ulf Buermeyer
Inhaltsverzeichnis
Ein Kommentar von Ulf Buermeyer

Ulf Buermeyer ist ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts und Richter des Landes Berlin. Dort war er seit 2008 in verschiedenen großen Strafkammern des Landgerichts tätig. Außerdem ist er Vorsitzender der 2015 gegründeten Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V., die sich mit strategischen Klagen für Grund- und Menschenrechte engagiert.

Vom "Abmahnwahn" war schon oft die Rede: Gewisse Anwälte versenden Abmahnungen immer wieder per Serienbrief, mit denen sie drei- bis vierstellige Summen verlangen und so für viel Frust und erhebliche Kosten sorgen. Doch eines hatten die bisherigen Abmahnungen für sich: Im Kern hatten die Abmahner meist einen Punkt.

Seit drei Wochen machen nun Abmahnungen wegen des Vorwurfs Schlagzeilen, die Abgemahnten hätten Videos auf einem Porno-Video-Portal lediglich angesehen. Damit dürfte allerdings die rote Linie des strafrechtlich Relevanten überschritten sein: Die Vorwürfe scheinen rechtlich so weit hergeholt, die Ermittlung des "Tatverdachts" so fehleranfällig, dass sich diese Masche für die Urheber der Abmahnwelle sehr wahrscheinlich als schmerzhafter Bumerang erweisen wird.

Eines vorab: Ich weiß über den konkreten Sachverhalt der Abmahnungen durch die Regensburger Kanzlei Urmann + Collegen (U+C) nicht mehr, als öffentlich bekannt ist. Deswegen kann und möchte ich zum konkreten Fall auch nicht Stellung nehmen. Wohl aber lässt sich die Fallgestaltung "Streaming-Abmahnung" abstrakt aus strafrechtlicher Sicht betrachten. Das Ergebnis dürfte für Streaming-Abmahner unerfreulich sein: Solche Abmahnungen werden in aller Regel wenigstens als versuchter Betrug strafbar sein. Ebenfalls zu erwägen wäre im konkretem Fall der Kanzlei U+C wohl eine Strafbarkeit wegen Nötigung oder Erpressung – dies vertreten jedenfalls zwei Berliner Rechtsanwälte in ihrer lesenswerten Strafanzeige (PDF-Datei).

Der Vorwurf des Betrugs setzt nach dem Strafgesetzbuch voraus, dass über Tatsachen getäuscht wird. Die Rechtsprechung erkennt dabei auch das Bestehen einer Zahlungspflicht als Tatsache an, über die man täuschen kann (BGH 4 StR 439/00 und BGH 5 StR 308/03). Wer als Rechtsanwalt – also immerhin mit der Autorität eines Rechtskundigen – bei Gelegenheit einer Abmahnung behauptet, sein Mandant habe eine Forderung gegen den Adressaten, und eine Geldzahlung verlangt, der sollte sich schon sehr sicher sein, dass diese Forderung tatsächlich besteht. Ist dies nicht der Fall, so liegt objektiv eine Täuschung im strafrechtlichen Sinne vor.

In Video-Streaming-Fällen drängt sich eine Vielzahl von Gründen auf, warum keine Forderung besteht, also objektiv getäuscht wird. Die denkbaren Forderungen setzen nämlich alle eine Urheberrechtsverletzung voraus, und hier sind erhebliche Zweifel angebracht: So steht den Stream-Konsumenten die Urheberrechts-Ausnahme der Privatkopie (§ 53 UrhG) zur Seite. Die entfällt zwar, wenn die "Vorlage", also der Film auf dem Streaming-Server, offensichtlich rechtswidrig ist (was sich auf die Herstellung oder das öffentliche Zugänglichmachen beziehen kann). Aber jedenfalls bei legalen Streaming-Portalen – anders als bei Anbietern wie kinox.to – ist das definitiv nicht der Fall: Es muss niemand auf den Gedanken kommen, dass Inhalte von legalen Streaming-Seiten rechtwidrig sein könnten, einfach weil es sicherlich fast alle Inhalte dort nicht sind.

Außerdem ist mehr als fraglich, ob das rein technisch bedingte kurzfristige Caching überhaupt ausreicht, um von einer Vervielfältigung auszugehen, denn das "Vervielfältigungsstück" im Cache umfasst regelmäßig nicht die komplette Datei, sondern nur Fragmente. Die aber sind für sich betrachtet wertlos und für den Durchschnittsnutzer auch kaum zu finden, wenn sie sich nicht ohnehin nur im RAM finden. Das scheint mit doch der Paradefall dessen zu sein, was der Gesetzgeber in § 44a UrhG als "vorübergehende Vervielfältigungshandlungen, die flüchtig oder begleitend sind ... [und] keine eigenständige wirtschaftliche Bedeutung haben" eigens für zulässig erklärt hat.

Letztlich spricht für die Zulässigkeit des bloßen Streaming-Konsums von legalen Portalen auch der gesunde Menschenverstand: Andernfalls könnte jeder auf Youtube angesehene Film eine Urheberrechtsverletzung darstellen, wenn die Rechteinhaber dem nicht zugestimmt haben – ein Ergebnis, das ganz offensichtlich unhaltbar wäre: Nutzer haben regelmäßig keine Möglichkeit, diese Rechtsfragen zu klären. Und Rechteinhabern ist es zuzumuten, sich unmittelbar an die Portale wenden, um Filme sperren zu lassen, anstatt auf Kosten der Verbraucher einen schnellen Euro zu machen.

Aus strafrechtlicher Perspektive bedeutet das: Wenn man die urheberrechtliche Lage so einschätzt wie dargestellt, dann enthalten Abmahnungen wegen Streaming von legalen Portalen schon deswegen objektiv eine Täuschung.

Doch selbst wenn man die Gegenposition einnehmen und hier eine Urheberrechtsverletzung annehmen wollte, stellt sich eine wesentliche technische Frage: Auf welcher Basis wird der Vorwurf gegen die Abgemahnten eigentlich erhoben?

Üblicherweise richten sich Abmahnungen gegen Anschlussinhaber, denen eine IP-Adresse zu einem bestimmten Zeitpunkt zugewiesen war. Das bedeutet aber, dass von der IP-Adresse aus zum fraglichen Zeitpunkt tatsächlich der fragliche Film abgerufen worden sein muss, soll eine Urheberrechtsverletzung in Betracht kommen. Geschehen bei der Ermittlung der IP-Adressen Fehler, so sind die darauf aufbauenden Forderungen unberechtigt und wiederum objektiv Täuschungen.

Die bisher diskutierten Thesen zur Herkunft der IP-Adressen in Streaming-Fällen, etwa eingeblendete Werbebanner oder gar gekaufte Umleitungen, lassen allenfalls den Nachweis zu, dass gleichsam die Startseite eines Videos aufgerufen wurde, also die HTML-Seite mit dem darin eingebetteten Film. Ob der Film selbst dann aber tatsächlich gestreamt wurde, hängt von allerlei Zufällen ab: Wurde der Film auch gestartet, oder war das Vorschaubild so wenig reizvoll, dass der Seitenbesucher lieber weitergeklickt hat? War das zum Ansehen meist notwendige Plugin aktiv – oder im Gegenteil ein Flash-Blocker, sodass erst einmal nur ein grauer Kasten erschien? Und falls das Plugin doch aktiv war, hat dann überhaupt ein Mensch auf den Play-Knopf gedrückt, oder hat das Plugin eigenmächtig Daten in den Cache geladen?

Selbst ein zutreffend nachgewiesener Aufruf der Startseite eines fraglichen Videos beweist also keinesfalls, dass es zu einer Vervielfältigung des Videos selbst kam, für die ein Mensch verantwortlich wäre. Ein solcher Nachweis wäre wohl selbst dann kaum möglich, wenn jemand Zugriff auf die Logs der Streaming-Server hatte, weil immer noch an ein automatisches Caching zu denken wäre. Außerdem werden die Betreiber von Streaming-Portalen kaum Zugriff auf ihre Log-Dateien gewähren, so denn derlei Daten überhaupt vorhanden sind. Selbst korrekt geloggte Zugriffe auf die Startseite oder gar die Streams weisen also keine Urheberrechtsverletzung nach, sondern nur der Möglichkeit einer solchen – und auch dies nur, wenn man der wie gezeigt eher esoterischen Auffassung folgt, wonach Streaming zwar eine Vervielfältigung, aber keine Privatkopie darstelle.

Die Folgen dieser Unsicherheiten sind aus strafrechtlicher Perspektive betrachtet gravierend. Sie bedeuten nämlich, dass jede einzelne Abmahnung (!) wenigstens eine mögliche Täuschung darstellt, denn in jedem einzelnen Fall ist es denkbar, dass gerade kein Video aufgerufen wurde. Für einen strafbaren Betrugsversuch durch den Abmahnanwalt fehlt es dann nur noch am sogenannten Tatentschluss, also dem "Vorsatz" beim Versuch: Der Anwalt muss es bei der Abmahnung immerhin für möglich gehalten haben, dass es gar nicht zu einem Streaming gekommen ist, und sich hiermit abgefunden haben, frei nach dem Motto: "Was kümmert's mich, wie die IP-Adressen ermittelt wurden!" Presseberichten zufolge soll ein Abmahn-Anwalt sich in einem Interview tatsächlich in diesem Sinne geäußert haben. Das würde die Staatsanwaltschaft natürlich sehr freuen, deutet es doch auf ein "billigendes In-Kauf-nehmen" hin, dass Forderungen objektiv nicht bestanden.

Welche Vorstellungen sich ein Anwalt bei einer Abmahnung gemacht hat, können letztlich nur Ermittlungen in jedem Einzelfall klären, die sich notwendig auf Indizien stützen müssen. Hier wird etwa von besonderer Bedeutung sein, was ein Anwalt über die Herkunft der IP-Adressen und deren konkrete Ermittlung wusste. Hinter einem Beschluss des Landgerichts, das einen Provider zur Herausgabe von Bestandsdaten verpflichtet, kann sich ein Abmahn-Anwalt jedenfalls nicht verstecken: Das Gericht kann natürlich nur die Tatsachen prüfen, die ihm vorgetragen werden. Werden ihm irreführende Schilderungen vorgelegt, so kann der darauf basierende Beschluss des Gerichts den Abmahnenden nicht entlasten.

Die innere Tatseite nachzuweisen ist gerade in Wirtschaftsstrafverfahren ein zentrales Problem der Strafverfolger. Hier kommen nun die Abmahn-Opfer ins Spiel: Wenn bei tausenden Abmahnungen nur ein paar Adressaten Strafanzeige stellen, mag man diese Fehlerquote noch als nicht ausreichend "verdächtig" ansehen. Wenn aber hunderte oder tausende Abmahn-Opfer glaubhaft erklären, dass die fraglichen Filmchen über ihren Anschluss nicht bewusst gesehen wurden, dann steht die Zuverlässigkeit der Ermittlung der angeblichen Urheberrechtsverstöße doch sehr in Frage. Und je unzuverlässiger die Daten, umso eher wird sich ein Gericht davon überzeugen können, dass der Abmahnanwalt wenigstens ahnte, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, er also wenigstens bedingt vorsätzlich handelte.

Strafrechtlich sind aber nicht nur die Abmahnanwälte selbst ins Visier zu nehmen, sondern auch ihre Auftraggeber: Wenn ein Anwalt selbst doch einmal guten Glaubens gewesen sein wollte, so käme in Betracht, dass ihn seine Auftraggeber, die die Herkunft der IP-Adressen im Zweifel kennen werden, gleichsam als Werkzeug benutzt haben, um die Abgemahnten zu täuschen: Strafrechtler sprechen hier von versuchtem Betrug "in mittelbarer Täterschaft". Und natürlich können auch alle Beteiligten bösgläubig gewesen sein.

Es ist zu hoffen, dass gegen Streaming-Abmahner engagiert ermittelt wird, denn hier geht es um ein Massenphänomen, das erheblichen gesellschaftlichen Schaden anrichtet. Bei unberechtigten Abmahnungen werden unter Missbrauch des Urheberrechts abwegige Vorwürfe erhoben; dadurch wird das Urheberrecht insgesamt weiter diskreditiert. Es ist kein Geheimnis, dass breite Kreise der Bevölkerung manche Aspekte des deutschen Urheberrechts ohnehin für fragwürdig halten. Windige Abmahnungen wegen Streamings sind daher blankes Gift für die gesellschaftliche Akzeptanz dieses Rechts.

Außerdem richten Streaming-Abmahnungen erheblichen wirtschaftlichen Schaden an – sie sind quasi der "Enkeltrick" des Internet-Zeitalters: Die Hintermänner setzen gezielt auf die Unbedarftheit ihrer Opfer und versuchen, sie zu unbegründeten Zahlungen bringen, zumal wenn es um peinliche Vorwürfe geht. Diese Masche sollte entsprechend energisch verfolgt werden.

Hierzu kann wiederum jedes Abmahnopfer einen Beitrag leisten: Wer sich sicher ist, einen abgemahnten Film nicht gesehen zu haben, und dies auch für andere Nutzer seines Zugangs ausschließen kann, der sollte Strafanzeige stellen und darum bitten, über den Fortgang des Verfahrens informiert zu werden. Nur durch eine Vielzahl von Strafanzeigen können die Ermittler verdächtige Muster erkennen. Und so lässt sich später zur Überzeugung eines Gerichts dokumentieren, dass nicht nur ein Fehler im Einzelfall vorlag, sondern unberechtigte Abmahnungen billigend in Kauf genommen wurden. Die Strafen könnten dann empfindlich sein: Der Strafrahmen des gewerbsmäßigen Betruges reicht von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe.

Siehe dazu auch:

(hob)