Virtuell realisierte Wirklichkeiten

Nach den Neujahrsfeierlichkeiten sollte man seinen Erinnerungen nicht trauen. Ab 2014 trifft dies auch auf Bilder von Smartphone-Kameras zu – dank Computational Photography.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Martin Kölling

Nach den Neujahrsfeierlichkeiten sollte man seinen Erinnerungen nicht trauen. Ab 2014 trifft dies auch auf Bilder von Smartphone-Kameras zu – dank Computational Photography.

Das Diktatorenleben hat seine Tücken. Hat man, wie im Dezember Nordkoreas Nachwuchsdiktator Kim Jong-Un, einen unliebsamen Nebenbuhler und seine Seilschaften beseitigt, musste die Propagandaabteilung bisher mühsam die in Ungnade gefallenen aus Fotos und Filmen beseitigen. Computer erleichterten die virtuelle Anpassung der Zeitzeugnisse an die neuen Realitäten der Kaderränge zwar gewaltig. Doch selbst mit der Rechenkraft von Hollywoods Filmstudios war dies stets eine gewaltige Herausforderung für die Retouchierbrigaden.

Allerdings dürfte das Orwellsche Handwerk demnächst leichter werden: Neue Kameramodule schicken sich an, das virtuelle Verschwindenlassen von Personen aus Fotos zum Volkssport zu machen. Der Fortschritt im Bereich der sogenannten Computational Photography macht's möglich.

Mit einem der ersten Vorstöße in die unbekannten Weiten virtueller Welten wird ab Ende Januar der japanische Elektronikkonzern Toshiba bei Handy- und Tablet-Herstellern hausieren gehen. Dessen Forscher haben ein Stereokameramodul entwickelt, mit dem sich wie bei der Lichtfeldkamera von Lytro die Tiefeninformationen von Objekten im Bild aufzeichnen lassen. Software soll es nicht nur ermöglichen, das Bild nach der Aufnahme nach Belieben zu fokussieren, was nebenbei den zeit- und ressourcenfressenden Autofokusmechanismus überflüssig macht. Außerdem soll der Hobbyfotograf auch störende Personen aus der Pixelmasse einfacher herausrechnen können.

Wie genau und wie gut der Mechanismus funktioniert, zeigt Toshiba uns Normalsterblichen noch nicht. Aber das Datenblatt macht neugierig. Die Kamera nimmt die Welt mit fünf Megapixeln auf. Der Prozessor kombiniert sie und rechnet die Auflösung auf inzwischen für Highendhandys marktübliche 13 Megapixel hoch. Doch die niedrigere Auflösung und wahrscheinlich auch die einfachere Konstruktion ermöglicht es den Ingenieuren, das Bauteil flacher zu fertigen als bisherige 13-Megapixel-Module.

Wie sich diese neue Technik auf den Markt und unsere Foto- und Sehgewohnheiten auswirken wird, ist noch offen für muntere Spekulationen. Klar ist allerdings, dass die Kombination immer höherer Rechenkraft mit immer besseren Algorithmen die Tür in eine neue Ära der Fotografie aufstößt. Denn virtuell realisierte Wirklichkeit direkt aus der Kamera ist kein Privileg technikaffiner Japaner, sondern ein Trend.

Eines der ersten weiteren Anwendungsfelder sind 360-Grad-Aufnahmen. Für Smartphones gibt es schon Software, die Bilder zusammensetzen kann. Ricoh (auch aus Japan) hat 2013 seine sphärische Kamera Theta vorgestellt, die mit zwei Objektiven ihre Umwelt ausschnittfrei und allumfassend aufnimmt. Nun sorgt ein ballförmiger Prototyp in den Foren für Aufregung, der mit 36 Drei-Megapixelkameras Rundumpanoramas zu schießen verspricht.

Panono heißt das Objekt der Begierde, für das die Entwickler derzeit Bestellungen aufnehmen. Der Fotograf kann die Kamera entweder in die Luft werfen, wo sie dank eines Beschleunigungssensors am Scheitelpunkt der Flugbahn den Auslöser selbst betätigt. Oder man kann sie auch fest montiert auslösen. Das Handy überträgt die Datenflut dann in die Cloud, wo rechenstarke Server sich dann aus rohen 108-Megapixel-Bildern eine mehr oder weniger schlüssige sphärische Aufnahme zusammenreimen.

Ob diese Kameras mehr als eine Spielerei werden, ist noch offen. Aber denkt man sich zu den zwei genannten Techniken noch die Möglichkeiten hinzu, aus Bildersammlungen dreidimensionale Abbilder von Plätzen und Räumen zu generieren, steht für mich eines fest: Ob nun zwei- oder dreidimensional ausgegeben, 2014 werden unsere Sehgewohnheiten um navigierbare Bilder bereichert werden. (bsc)