Die Zeit der Unschuld ist vorbei

Das neue Lebensgefühl in der Ära anlassloser Überwachung: eingesperrt zu sein, ohne es zu merken. In einem Datenkäfig.

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Von
  • Peter Glaser

Das neue Lebensgefühl in der Ära anlassloser Überwachung: eingesperrt zu sein, ohne es zu merken. In einem Datenkäfig.

1957 entwarf Vance Packard in seinem Buch "Die geheimen Verführer" das Menschenbild eines ohnmächtigen, von Medien und Werbung manipulierbaren Konsumenten. In den Achtzigerjahren nahmen die Fernsehzuschauenden die Sache wieder selbst in die Hand. Die Fernbedienung wurde zum Werkzeug der Selbstermächtigung, der Zuschauer wurde aktiv. Er übernahm nun selbst die Bildregie. In den Neunzigern öffnete sich mit dem Web ein Traum des in sein Hamstertretrad aus TV-Programme eingesperrten Zusehers. Jeder Klick auf einen Link öffnete ein weiteres Programm in einer neuartigen Unterhaltungs- und Informations-Unendlichkeit. Dem Netz hing der Ruf an, anarchistisch und unkontrollierbar zu sein, ein digitaler Dschungel, durchstreift von Hackern, Atomphysikern, Kreditkartendieben und Pornografen. Abenteuer!

Dann stellten Unternehmen wie Google, Facebook, Amazon und Apple die ersten mächtigen Werkzeuge zur Verfügung, mit denen sich die Sturmfluten an Information und Kommunikation bändigen und ungekannte Bequemlichkeiten vom Schreibtisch aus genießen ließen. Das Pyjama-Zeitalter hatte begonnen – das ganze Online-Universum lässt sich im Pyjama bereisen. Der Preis dafür: Im Netz kann man kein ganzer Mensch mehr sein. Man ist nur noch Nutzer. 2006 prangte auf dem Titel des Time-Magazins als "Person des Jahres" – YOU. Du. Der Nutzer. Die digitale Aristokratie kennt nur noch Könige, hieß das. Du bestimmst, was im Netz geschieht. Welche Nachricht auf Platz 1 steht. Welche Produkte durch Crowdfunding realisiert werden. Du zwingst die Musikindustrie in die Knie. Du bist Teil einer einzigartigen, weltweiten Revolution.

Gelegentlich wurde das triumphale Gefühl, an der Eroberung des digitalen Kontinents teilzunehmen, überschattet von dem Verdacht, beim Tausch seiner persönlichen Daten gegen Gratisdienstleistungen womöglich mit Glasperlen abgefunden zu werden. Warum fliegt Larry Page einen Privatjet und ich fahre immer noch S-Bahn, obwohl ich auf dem Titel des Time-Magazins war? Sind meine Nutzerdaten nicht um einiges mehr wert als die gebotenen Dienste? Auch dass einem Daten heimlich oder mit Drückermethoden aus der Tasche gezogen werden, minderte den Eindruck einer verbesserten neuen Welt.

In welchem Ausmaß inzwischen mit uns verfahren wird, machen die immer neuen Enthüllungen aus dem Fundus von Edward Snowden deutlich. Passend flankiert werden sie von Innovationen wie Google Glass, einer Sehhilfe, mit der sich jeder in eine lebende Überwachungskamera verwandeln kann. Kameras, die einfach nur aufnehmen, was zu sehen ist, sind im übrigen Schnee von gestern. Visuelle Künstliche Intelligenz erkennt heute Autonummern und analysiert Live-Videos – die Algorithmen können zwischen "normalem" und "ungewöhnlichem" Verhalten von Menschen unterscheiden, Zusammenhänge zwischen Orten, Personen und Aktivitätszeitpunkten herstellen und Datenmassen so analysieren, dass daraus Schlüsse auf künftige Situationen gezogen werden können.

Solche Software wird beispielsweise in den polizeilichen "Real Time Crime Centers" amerikanischer Großstädte eingesetzt. Das Programm Blue CRUSH ("Criminal Reduction Utilizing Statistical History") kombiniert dabei Daten aus bisherigen Straftaten mit Wetterberichten, Veranstaltungshinweisen, Zahltagen und ähnlichem, um auf den Bildschirmen Kriminalitätsmuster sichtbar zu machen, die darauf hinweisen, wann und wo es Probleme geben könnte. Die Verbreitung von Smartphones und Tablets, neue Speichertechnologien wie SSD und leistungsfähige Parallelverarbeitung auf neuen Supercomputern machen die lückenlose Überwachung und Lesbarkeit der Kommunikationsströme in immer feinerer Auflösung möglich. Das ist das neue Lebensgefühl in der Ära anlassloser Überwachung: eingesperrt zu sein, ohne es zu merken – in einem Datenkäfig.

Mit Netzwerkanalyse-Werkzeugen lassen sich zudem Beziehungsgeflechte zwischen Personen erstellen. Es reicht, Zugriff auf die Verbindungsdaten zu haben – Stichwort Vorratsdatenspeicherung. Diese Metadaten lassen sich nicht mehr verstecken oder verschlüsseln. Und Informationen darüber, mit wem man in Kontakt steht, können genauso verräterisch sein wie Gespräche. Snowden hat uns über Dinge aufgeklärt, die das Vertrauen in elektronische Kommunikation und die Integrität des Internets grundlegend erschüttern. Die Zeit der Unschuld in der digitalen Welt ist vorbei. Es ist eine Welt, die auf Berechnungen basiert, aber da gibt es noch etwas anderes. Nichts als beziffert zu sein, und sei es in Form von Wahrscheinlichkeiten, nimmt uns jene wesentliche Art der Unbestimmtheit, die wir Freiheit nennen. (bsc)