Mehr Geld für Telemedizin

Das Handy überträgt Blutwerte, der Arzt behandelt per Videoschalte: Die Telemedizin ist schon lange die große Hoffnung im Gesundheitswesen – und scheitert immer wieder an den Erstattungsregeln der Kassen. Das soll sich ändern.

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Von
  • Bernd Kramer
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Das Handy überträgt Blutwerte, der Arzt behandelt per Videoschalte: Die Telemedizin ist schon lange die große Hoffnung im Gesundheitswesen – und scheitert immer wieder an den Erstattungsregeln der Kassen. Das soll sich ändern.

Willi Daniels möchte in der Silvesternacht einen Luftballon für seinen Sohn aufblasen. Das Gummi bleibt zäh, dreimal holt er tief Luft, dann erinnert er sich an nichts mehr. Eine Silvesterleiche, denken sie im Kranken- haus, er solle seinen Rausch ausschlafen. Daniels protestiert, aber bekommt kein Wort heraus. Er macht Gesten, will auf den Kopf deuten. "Mir war klar", sagt der 64-Jährige heute, "dass irgendetwas in meinem Gehirn passiert ist." Erst nach drei Tagen diagnostizieren Ärzte einen Schlaganfall. Viel zu spät – hätte Daniels nicht so viel Glück gehabt, wäre er tot oder gelähmt für den Rest des Lebens. "Ein Fachmann hätte das in zehn Sekunden erkannt."

Heute, 15 Jahre später, setzt Daniels sich mit einer Selbsthilfegruppe dafür ein, dass Schlaganfallpatienten besser versorgt werden – egal wie weit der Weg vom Wohnort zur nächsten Spezialklinik ist. "Die Telemedizin muss dringend ausgeweitet werden." Per Video werden Neurologen in die Krankenhäuser zugeschaltet, in denen es keinen Schlaganfallexperten gibt.

Ein Musterprojekt, das Daniels zur Nachahmung empfiehlt, nennt sich Tempis: Seit gut zehn Jahren schließen sich unter diesem Namen Kliniken in Südost-Bayern zusammen. Neurologen in den Schlaganfallzentren der Krankenhäuser in München und Regensburg stehen speziell dafür zur Verfügung, Videodiagnosen für die umliegenden Kliniken durchzuführen – bis zu 16-mal am Tag. "Beim Schlaganfall bietet sich die Telemedizin besonders an, weil es so schnell gehen muss und Experten gerade in dünn besiedelten Regionen weit weg sind", sagt Peter Müller-Barna, Neurologe am Städtischen Klinikum München und Koordinator des Tempis-Netzwerks. Spätestens drei bis vier Stunden nach dem Schlaganfall muss die Thrombolyse-Behandlung einsetzen, die Blutgerinnsel im Gehirn auflöst. Andernfalls sterben zu viele wichtige Nervenzellen ab.

Per Video bitten Müller-Barna oder seine Kollegen bei ihrer Televisite den Internisten vor Ort zum Beispiel, vor dem Gesicht des Patienten einen Stift von rechts nach links zu führen. Aus dem Münchner Zentrum zoomt Müller-Barna währenddessen heran: Folgen die Augen des Patienten der Bewegung? "Wenn sie ruckeln, ist das ein schlechtes Zeichen", sagt Müller-Barna.

Doch Behandlungen aus der Ferne sind in Deutschland derzeit meist noch die Ausnahme – egal ob es darum geht, wie bei Tempis Ärzte zu vernetzen oder über das Mobilfunknetz Herzschlag, Blutzuckerspiegel und andere Werte von Patienten im Auge zu behalten. "Telemedizin gibt es bisher vor allem in Modell- und Einzelprojekten", sagt Wolfgang Loos, Geschäftsführender Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin. "In der Regelversorgung ist sie bis auf Anwendungen für Schlaganfallpatienten noch nicht angekommen."

Eine Herausforderung etwa ist der Datenschutz. In vielen Konzeptbeschreibungen umfassen allein die Regeln zum Umgang mit den Gesundheitsinformationen sowie für ihre sichere Verschlüsselung mehr als 100 Seiten. Denn die sensiblen Daten sollen ja nicht in falsche Hände gelangen.

Der wichtigste Grund für die schleppende Umsetzung jedoch dürfte die fehlende Kostenerstattung sein: Telemedizin kann oft nicht mit den Kassen abgerechnet werden – vor allem dann, wenn Haus- oder Fachärzte sie anbieten möchten. In einem dicken Verzeichnis, dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab, steht für jede Leistung, was ein Arzt der Versicherung berechnen darf, vom Hausbesuch bis zum Belastungs-EKG. Was er allerdings bekommt, wenn er Daten im Blick hält, die Patienten ihm mitunter rund um die Uhr auf den Praxiscomputer funken, ist darin nicht festgelegt.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Versicherungen hatten von der Bundesregierung den 31. März 2013 als letzte Frist gesetzt bekommen, eine Einigung über die Finanzierung der ambulanten Telemedizin zu erreichen. Doch weil viele Fragen, etwa ob künftig jeder Arzt von den Kassen einen Computer oder ein Smartphone bezahlt bekäme, noch ungeklärt waren, ließ der Bewertungsausschuss den Termin verstreichen – ein neuer ist noch nicht in Sicht.

Deutlich schneller geht es mit der Technik voran. Etwa bei der Übertragungsgeschwindigkeit: Im Tempis-Netzwerk zum Beispiel brauchen die Experten 20 Bilder pro Sekunde, um die Augenbewegung der Schlaganfall-Patienten gut beurteilen zu können. Vor zehn Jahren mussten sie dazu 30 ISDN-Leitungen bündeln, um aus allen angeschlossenen ländlichen Regionen ein klares Bild zu bekommen. Heute ist das dank DSL einfacher.

Und es kommen immer neue Telemedizingeräte auf den Markt. Die Schweizer Firma Sensimed etwa vermarktet Kontaktlinsen mit eingebautem Sensor, die den Augeninnendruck messen und das Signal direkt an ein Aufzeichnungsgerät funken – gedacht für Patienten mit grünem Star. Das Berliner Unternehmen Biotronik hat einen Herzschrittmacher entwickelt, der, wenn es kritisch wird, direkt den Arzt benachrichtigt. Und Forscher des Fraunhofer-Instituts Erlangen haben in T-Shirts und Babystrampler Schaltkreise eingenäht, die permanent die Atmung überwachen.