WIPO-Chef: Das System geistigen Eigentums ist massiv unter Druck

Der Generaldirektor der Weltorganisation für geistiges Eigentum warnte vor tektonischen Spannungen im System der Rechte an immateriellen Gütern. Die große Nachfrage nach Patenten, Produktpiraterie und private Absprachen seien die größten "Stressfaktoren".

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Francis Gurry, Generaldirektor der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO), hat vor tektonischen Spannungen im System der Rechte an immateriellen Gütern gewarnt. Vor allem das Patentwesen und das Copyright "stehen unter Druck", sagte der Australier auf einer Konferenz (PDF-Datei) des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) zum "Tag des geistigen Eigentums" am heutigen Freitag in Berlin. Die "Stressfaktoren" bezeichnete Gurry als "Folge der jüngsten Welle der Globalisierung". So würden Unternehmen verstärkt rund um die Welt wirtschaften und Verbraucher ihre technischen Geräte wie Mobiltelefone auch auf dem gesamten Globus einsetzen wollen. Im Gegensatz dazu seien Urheberrechte und gewerbliche Schutzrechte nach wie vor territorial beschränkt. Daraus erwachse die "große Gefahr", dass sich die wirtschaftliche und politische Landschaft so schnell ändere, dass die Anpassung der politischen Architektur nicht mithalten könne.

Als konkrete Ausformungen des zunehmenden Drucks bezeichnete der WIPO-Chef unter anderem, dass das Patentsystem mit der Nachfrage aus der Industrie nicht mehr mithalten könne. "Wir haben 3,5 Millionen nicht erledigte Anträge", sorgte sich Gurry über den großen Rückstau bei der Bearbeitung von Patentanmeldungen bei den großen Patentämtern in den USA, der EU und Japan. Die WIPO habe zwar einen eigenen Patentkooperationsvertrag zur Abmilderung dieses Problems ins Leben gerufen, dieser funktioniere aber nicht. So gebe es keine weltweiten Suchmöglichkeiten nach dem bereits verfügbaren Stand der Technik von Erfindungen. Gurry forderte hier einen "Fahrplan", um die Nachfrage effizienter zu managen. Ziel solle kein "globales Patentamt" sein, sondern eine stärkere Vernetzung der bestehenden Behörden.

Als zweiten Stressfaktor beleuchtete Gurry das Problem der "Produkt- und Internetpiraterie". Bei physischen Artikeln liege der Schaden hier nach Schätzungen der OECD von 2005 bei 200 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Dennoch sei es verwunderlich, dass Markenpiraterie in internationalen Verhandlungen geradezu als "Tabu-Thema" gehandhabt werde. Eventuell seien Begriffe wie "Raubkopien" oder "Fälschungen" zu allgemein gewählt, da etwa der Erwerb einer "günstigen" Handtasche mit einem getürkten Label in Teilen der Bevölkerung auf Sympathie stoße. Besser sei es daher, Beispiele wie die Fälschung von Medikamenten mit den möglichen Gefahren für die Sicherheit und die Gesundheit von Menschen in den Vordergrund zu stellen.

Über das Internet werde unterdessen immer wieder die "technologische Redundanz des legalen Modells des Copyright" proklamiert. So habe die Musikindustrie für das vergangene Jahr Zahlen veröffentlicht, wonach 40 Milliarden Songs illegal aus dem Internet heruntergeladen worden seien. Man müsse angesichts dieser Statistik die Frage stellen, ob es sich hier noch um "Piraterie" oder schon um eine "Änderung der Umstände" handle. Einerseits sei die Nachfrage für entsprechende kulturelle Werke offensichtlich groß und Künstler würden auch selbst die neuen Technologien nutzen. Andererseits bestehe für diese keine gute Möglichkeit mehr, ihr Schaffen zu kommerzialisieren. Es sei daher bezweifelbar, ob ein "marktbasiertes Modell" zur Entlohnung der Kreativen noch funktionierte, bezog sich Gurry indirekt auf die Debatte um die Einführung einer "Kulturflatrate" zur Legalisierung von Download-Aktivitäten. Es gehe darum, "wie wir Kultur und Unterhaltung künftig finanzieren wollen".

Generell sieht Gurry angesichts des rasanten technologischen Wandels die Gefahr, dass die politischen Leitlinien nicht mehr von den Gesetzgebern, sondern von der Technik selbst und dem Markt bestimmt werden. Der WIPO-Vertreter hatte dabei vor allem den außergerichtlichen Vergleich im Blick, den Google im Februar mit US-Verlegern im Streit über das Copyright an Büchern beim Digitalisieren entsprechender geschützter Werke schloss. So hätten die Verlagsbranche zunächst Klage gegen das Scannen und Veröffentlichen von Büchern erhoben, dann aber im Ausgleich für die Zahlung von 125 Millionen US-Dollar eingelenkt. Damit werde eine Art privates Copyright-System begründet, in dem der Suchmaschinengigant die Fakten schaffe. Gurry ist dagegen der Ansicht, "dass Rechte an immateriellen Gütern weiter unter dem Aspekt der öffentlichen Gesetzgebung vorangetrieben werden müssen". Wichtiger sei zunächst aber die Verbesserung und die Durchsetzung der bestehenden gesetzlichen Regeln. Mittelfristig werde Innovation aber wohl eine Dienstleistung, die kaum mehr produktbezogen sei. (Stefan Krempl) / (jk)