Vor 20 Jahren: Spam, Spam, Spam und noch einmal Spam

Heute vor 20 Jahren "traf Fleisch den Ventilator" – so jedenfalls beschrieb die Anwältin Martha Siegel den Aufruhr im Internet, den sie und ihr Mann Laurence Canter erzeugten, als sie Werbung an 1000 Newsgroup des Usenets schickten.

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Der Aufruhr schlug in blanken Hass um, als ein von Canter & Siegel extra eingestellter "Computerfreak" ein Perl-Skript aktivierte, das rund 6500 Newsgroups mit dem versorgte, was fortan allgemein "Spam" genannt wurde.

Es war nicht die erste Werbeattacke, die das noch nicht kommerzialisierte Internet vor 20 Jahren erregte, aber es war die heftigste: Heute vor 20 Jahren begannen die Anwälte Canter und Siegel mit dem "immigration spamming". Sie boten über zahllose Newsgroups ihre Dienste als Anwälte an. Adressaten der Massenwerbung waren Ausländer, die ein Visum für die USA suchten und an der alljährlich am 1. Mai stattfindenden Visa-Lotterie teilnehmen wollen. Die "Green Card Lawyers" Canter und Siegel wollten gegen Geld Tipps verkaufen, wie man in der Lotterie gewinnen kann. Das Internet kochte vor Wut. Als die Anwälte im Juni 1994 ihre Aktion mit 6500 Newsgroups wiederholten, schrieb der norwegische Programmierer Arnt Gulbrandsen einen Cancelbot und entfachte damit eine Debatte über Werbung und Zensur im Internet.

Im Jahre 1994 war die Welt des Internet noch in Ordnung. Wer sich im Netz tummelte kannte die Netiquette oder wurde schnell darauf hingewiesen, was die Regeln des Netzes sind. Eine dieser Regeln besagte, dass Multipostings in Newsgroups unerwünscht sind. Eine andere, das Werbung für eigene Zwecke nur in Ausnahmefällen gestattet ist und nicht kommerziell sein darf. Martha Siegel und Laurence Canter brachen gleich mehrere dieser Regeln, nachdem ihr erster Auftritt in alt.visa.us wenig beachtet wurde. In ihrem später veröffentlichten Buch "Profit im Internet" (englisch drastischer: How to Make a Fortune on the Information Superhighway) begründeten sie ihre Kommunikation mit den aufgebrachten Netizen so:

"Hören Sie einfach nicht hin. Die einzigen Gesetze, mit denen Sie sich auseinandersetzen sollten, sind die Ihrer Regierung oder der Stadt, in der sie leben. Den einzigen ethischen Grundsätzen, denen Sie auf ihrem Weg zum Reichtum folgen sollten, sind diejenigen, denen Sie aufgrund Ihrer Religion oder Überzeugung folgen."

Weil es keine juristisch bindenden Regeln gab, waren "Canter & Siegel" davon überzeugt, im Recht zu sein. Ihr immerzu wiederholtes Credo: Es gibt keine Internet-Gemeinschaft. Sie gerierten sich als aufrechte Pioniere, die im Planwagen in den Wilden Westen des Internets ziehen und dort die Zivilisation errichten, Werbung inklusive. Dabei war Martha Siegel der "Frontman". Jeder, der etwas gegen ihre "Mission" vorbrachte, wurde zum Feind deklariert. Ed Krol, Autor des einflussreichen Whole Internet User Guide wurde als "in Khaki gehüllter Idiot" verspottet.

Anfeindungen gab es ja: der Programmierer, der die beiden mit Skripts versorgte, musste untertauchen. Wer als Internet-Provider den Anwälten einen Zugang gewährte, bekam Schwierigkeiten mit anderen Kunden. Der erste Provider namens Internet Direct erhielt so viele Beschwerden, dass seine Server laufend zusammenbrachen. Laurence Canter verlor 1997 aufgrund weiterer Green Card-Aktionen seine Zulassung als Anwalt. Ein zeitgenössischer Stimmungsbericht findet sich hier.

Matha Siegel und Laurence Canter sahen sich 1994 in hegelianischer Manier als Vollender des Internet, die über die Techniker triumphieren. Die Welt ist dazu da, Geschäfte zu machen und reich zu werden. Der I-Way, wie sie das Internet nannten, unterscheidet sich nicht von dieser Welt:

"Wir entdeckten eine vollkommen neue und zum großen Teil unberührte Welt, wo Sie beinahe alles mit einem minimalen Kostenaufwand verkaufen können. Der sogenannte Greencard-Vorfall eröffnete die Zukunft der Kommerzialisierung des I-Ways für beinahe jeden Freund oder Feind. Diejenigen, die den I-Way technologisch entwickelt hatten, sind verständlicherweise enttäuscht, nun zu sehen, dass ihre Erfindung in die Hände von anderen fällt. Bedauernswerterweise werden sie die Benutzung ihrer Erfindung durch die breite Öffentlichkeit nicht als ein Kompliment verstehen. Diejenigen, die den I-Way für die verschiedensten Zwecke, einschliesslich des Marketings, benutzen, vollenden die Arbeit, die die Computertechniker begonnen haben,"

Bereits vor den Newsgroups-Massenpostings gab es Werbung im Internet. Auch die Bezeichnung Spam nach einem Sketch von Monty Python war unter den Computertechnikern bereits geläufig. Doch erst mit der Aktion von Canter & Siegel wurde Spam in der "breiten Öffentlichkeit" bekannt. Für Martha Siegel und Laurence Canter ging der Traum vom "Make Money Fast" nicht in Erfüllung. Was immer sie mit ihrem Newsgroups-Spam verdient haben mochten, ging im Prozess um den Namen Cybersell drauf. Das Paar ließ sich danach scheiden. Martha Siegel starb verarmt im Jahre 2000, von Laurence Canter gibt es wenig Spuren; angeblich betreibt Canter einen Internet Provider namens Host Milo Corporation. Die Canter & Siegel gewidmete Newsgroup alt.flame.hall-of-fame ist Geschichte. (Detlef Borchers) / (uk)