Pro & Contra: Das "Recht auf Vergessen" im Internet

Mit seinem Google-Urteil schreibt der EuGH das "Recht auf Vergessen" fort. Suchmaschinenbetreiber können verpflichtet werden, Links zu sensiblen persönlichen Daten zu unterdrücken. Nicht alle finden das gut. Zwei Meinungen aus der Redaktion.

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Kein Grundrecht steht automatisch über einem anderen. Jeder Einzelfall muss abgewogen werden, und genau das hat der EuGH in seinem maßvollen Urteil betont, meint Martin Holland.

Ja, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs schränkt die Informations- und Pressefreiheit im Internet ein. Aber es bleibt maßvoll und legt dem Internet keinen Maulkorb an. Wie zuvor der Bundesgerichtshof hat das oberste europäische Gericht festgestellt, dass mehrere Grundrechte gegeneinander abgewogen werden müssen. Und wenn das Persönlichkeitsrecht den Grundrechten der Informations- und Meinungsfreiheit gegenübersteht, haben letztere nicht automatisch Vorfahrt.

Ein Kommentar von Martin Holland

Martin Holland schreibt seit 2012 für heise online und c't. Lange Zeit beschäftigte er sich vor allem mit den NSA-Enthüllungen des Edward Snowden und deren Folgen. Nachdem die längst Geschichte sind, haben sich neben weiteren IT-Themen, vor allem auch zu gesellschaftlichen Folgen von Internet, Social Media, Künstlicher Intelligenz & Co. schließlich Astronomie und Raumfahrt als wichtige Schwerpunkte etabliert.

Ein "Recht auf Vergessen" wird damit nicht eingeführt, denn das gibt es bereits: Wer sich etwas zuschulden kommen lässt, hat Jahre später und nach Verbüßung einer Strafe das Recht darauf, dass der Eintrag dazu aus dem Vorstrafenregister gelöscht wird. Die berühmte zweite Chance ist Teil der Resozialisierung. Der EuGH hat das nun in die Sphäre Internet übertragen.

Das bedeutet aber nicht, dass das Persönlichkeitsrecht immer automatisch die Informationsfreiheit schlägt. Bei Angelegenheiten von öffentlichem Interesse hat das Recht der Öffentlichkeit auf Information Vorrang, die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen müssen zurückstehen.

Doch gilt auch das nicht immer. Jeder Einzelfall muss abgewogen werden – und mit der Zeit können sich die Gewichte zu Gunsten der Persönlichkeitsrechte verschieben, wie der vom EuGH behandelte Fall zeigt. Der spanische Kläger ist keine Person des öffentlichen Interesses und hat ein Recht darauf, das auch Google seine Verfehlungen vergisst.

Dass es nicht um die Löschung der Inhalte selbst geht, unterstreicht die Verhältnismäßigkeit des Urteils. Wenn Medien gezwungen werden, ihre Archive zu leeren und wahrhaftige Berichte zu löschen, dann ist das Zensur. Die Pressefreiheit würde damit nicht eingeschränkt, sondern ausgehebelt.

Das Urteil bedeutet nicht, dass jemand Links auf aktuelle Berichte unter Berufung auf sein Persönlichkeitsrecht verhindern kann. Aber wenn sich der Wind gelegt hat, die Berichte vergessen und Konsequenzen gezogen sind, dann kann er darauf bestehen, dass die alte Geschichte nicht mehr die erste Antwort ist, die eine Suchmaschine für seinen Namen hat.


Laut dem Google-Urteil des EuGH können Suchmaschinenbetreiber verpflichtet werden, Links zu sensiblen persönlichen Daten zu unterdrücken. Fabian Scherschel sieht dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet.

Wir können das Internet schon lange nicht mehr ohne Suchmaschinen bewältigen. Diese Tatsache gibt Konzernen wie Google große Macht, denn ihre Dienste sind es, die uns die Informationen des Netzes zugänglich machen – oder auch nicht. Vielen Menschen macht Angst, was man über sie im Netz finden kann. Sollte deshalb ein "Recht auf Vergessen" existieren? Vielleicht. Aber sicher nicht in der Form, wie es der EuGH jetzt durchgesetzt hat.

Ein Kommentar von Fabian A. Scherschel

Fabian A. Scherschel schrieb von 2012 bis 2018 als Redakteur täglich für heise online und c't, zuerst in London auf Englisch, später auf Deutsch aus Hannover. Seit 2019 berichtet er als freier Autor und unabhängiger Podcaster über IT-Sicherheit, Betriebssysteme, Open-Source-Software und Videospiele.

Die eigentliche Fundstelle der sensiblen Informationen bleibt von dem Urteil völlig unberührt. Es verbietet nur der Suchmaschine, diese Informationen auffindbar zu machen. Das ist nicht konsequent. Wenn der EuGH der Meinung ist, dass die Informationen ein Problem darstellen, dann soll er sie an der Quelle löschen. Nur den Weg zu den Daten zu verbauen, wird nicht funktionieren. Das Internet routet um solche Eingriffe herum.

Und genau da macht mir das Urteil noch mehr Sorgen. Auch die EU-Juristen werden bald feststellen, dass es nicht reicht, Links zu unterdrücken. Der nächste Schritt wird dann sein, die Informationen selbst zu löschen. Zur Erinnerung: Wir reden über Informationen, die der Wahrheit entsprechen. Gegen die Verbreitung von Lügen gibt es längst adäquate Rechtsmittel.

Der EuGH will also nicht, dass die Wahrheit über Personen nach einer gewissen Zeit noch auffindbar ist. Die Gefahr des Missbrauchs ist immanent: Kriminelle, die ihre persönliche Google-Geschichte reinwaschen. Konzerne oder Prominente, die unliebsame Berichte unterdrücken. Es wird die Arbeit von Journalisten erschweren – zum Nachteil der Öffentlichkeit, der Informationen vorenthalten werden.

Dann lieber doch kein Vergessen im Internet. Die NSA und der BND merken sich ohnehin alles und werden dieses Urteil geflissentlich ignorieren. Wir sollten uns lieber daran gewöhnen, dass sich die Gesellschaft verändert. Vom Buchdruck über die Schreibmaschine bis zum Internet hat die Technik diesen Prozess beschleunigt. Er lässt sich auch nicht durch Gesetze aufhalten. Das wusste schon Bob Dylan, als er in den 1960ern sang: "Die Zeiten ändern sich. Du fängst besser an zu schwimmen oder du versinkst wie ein Stein." (vbr)