Verfassungsrichter beklagt zu starke Einschränkung der Freiheitsrechte

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat dem Gesetzgeber auf einer Podiumsdiskussion zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes eine zu starke Verschiebung der Balance hin zur Sicherheit vorgeworfen.

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Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hofft, dass Karlsruhe künftig weniger mit der Korrektur überbordender Sicherheits- und Überwachungsgesetze beschäftigt sein wird. Die Rechtsprechung der letzten Jahre etwa zu heimlichen Online-Durchsuchungen oder zum Kfz-Kennzeichenscanning "hat eine gewisse Linie vorgezeichnet", die für die künftige Gesetzgebung eine gewisse Leitfunktion haben werde, gab der führende Jurist seinen Erwartungen an die Politik am gestrigen Donnerstagabend bei einem "Verfassungsgespräch" zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes im Bundestag Ausdruck. Zuvor hatte er moniert, dass es beim Versuch der neuen Austarierung des Spannungsverhältnisses zwischen Sicherheit und Freiheit nach dem 11. September eine "zu starke Verschiebung zu Lasten der Freiheit" gegeben habe.

Das Bundesverfassungsgericht habe sich daher – angerufen von etlichen Bürgern – wiederholt einschalten müssen, erläuterte Papier die rund 40 vorgenommenen Gesetzeskorrekturen allein in den vergangenen fünf Jahren. Dabei habe es nicht neue Kontroll- oder Eingriffsinstrumente wie Online-Durchsuchungen oder Rasterfahndungen an sich getadelt, sondern deren konkrete Ausführung in den beanstandeten Gesetzen. Diese seien zu weit formuliert oder nicht verhältnismäßig gewesen. Vielfach sei auch der Kernbereich privater Lebensgestaltung, den Karlsruhe im Urteil zum großen Lauschangriff umriss, nicht ausreichend geschützt worden.

Wenig glücklich zeigte sich Papier zugleich mit den zum Teil "geschwätzigen" Änderungen, die der Gesetzgeber jeweils mit Zweidrittelmehrheit am Grundgesetz vorgenommen hat. Die Zahl von etwa über 50 förmlichen Modifikationen in 60 Jahren an sich sei zwar nicht übermäßig hoch. Jede Verfassung müsse sich auch fragen lassen, ob sie mit den gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt hält, ohne aber dem Zeitgeist zu huldigen. Bei der Änderung von Artikel 13 etwa zur Aufweichung der Unverletzlichkeit der Wohnung für deren akustische Überwachung sei der Gesetzgeber aber "sehr ins Detail gegangen" und habe die Linie der Klarheit und Kürze der Verfassung verlassen. "Ganz entscheidende Veränderungen" am Gehalt des Grundgesetzes habe dagegen das Bundesverfassungsgericht selbst mit der Anpassung an technologische Entwicklungen mit dem Abstecken der Grundrechte auf informationelle Selbstbestimmung und auf die Gewährleistung der Vertrauenswürdigkeit und Integrität informationstechnischer Systeme bewirkt.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der in der Vergangenheit die Rechtsprechung aus Karlsruhe wiederholt als zu weitgehend gerügt hatte, betonte, dass er ein großer Anhänger der Verfassung sei. "Ich habe auch Vertrauen zum Verfassungsgericht", ergänzte der CDU-Politiker zur Feier des Tages. So nehme die Politik "jedes Urteil sehr ernst" und versuche, aus den erteilten Rügen zu lernen. Bei den beanstandeten Gesetzen habe es sich aber fast ausschließlich um Landesgesetze gehandelt. Der Bund habe im Sicherheitsbereich allein eine einstweilige einschränkende Anordnung im Rahmen der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung erhalten. Da warte Berlin nun "geduldig, aber in großer Hoffnung" auf eine endgültige Entscheidung aus Karlsruhe.

Für Schäubles Kollegin im Justizressort, Brigitte Zypries, weicht der Verfassungstext in mancherlei Hinsicht inzwischen zu sehr vom Verfassungsrecht ab. Die SPD-Politikerin plädierte so mittelfristig etwa für eine ausdrückliche Aufnahme des informationellen Selbstbestimmungsrechts ins Grundgesetz. Neben dem Datenschutz fehle es diesem an klaren Ausformulierungen der Rechte von Kindern oder homosexuellen Partnerschaften.

Allgemein verwies die frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, auf die große Rolle, die das Grundgesetz bei der Unterstützung "wehrhafter Bürger" gerade in Krisensituationen einnehme: "Es verleiht wirklich Freiheitsrechte, die stabil sind." Dies sei in den Köpfen und Herzen der Bürger angekommen. Die Einschränkungen etwa von Artikel 13 dürfe man daher nicht als "Sprachästhetik" beschreiben, vielmehr würdne damit "politische Spielräume eingeengt". Der frühere Stasi-Unterlagenbeauftragte Joachim Gauck lobte die Verfassung als "sehr stabile Basis für die Bürgerrechte", auf die er stolz sei. Das Grundgesetz beschreibe eine Ordnung der Freiheit, auf der die Menschenwürde beruhe. Dies sei das Umfeld für die Wurzeln der Demokratie. Sorge getragen werde müsse aber, dass "bei mehr Europa nicht weniger Rechtsstaatlichkeit" herauskomme, bemängelte er hierzulande nur schwer von Karlsruhe zu prüfende Vorgaben aus Brüssel. (Stefan Krempl) / (jk)